Polen: Wie bedrohlich ist der rechte Aufmarsch?

Am polnischen Unabhängigkeitstag am Samstag haben rund 60.000 Menschen an einer von ultrarechten Nationalisten organisierten Demonstration in Warschau teilgenommen. Viele von ihnen schwenkten rassistische Spruchbänder. Innenminister Mariusz Blaszczak will davon jedoch nichts gesehen haben und lobte die gute Atmosphäre. Bei vielen Kommentatoren läuten angesichts des Aufmarsches allerdings die Alarmglocken.

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Polityka (PL) /

Am gefährlichsten sind die Familien

Die größte Gefahr sind die Familien, die von den Rechten gerne als Beleg für die Harmlosigkeit des Unabhängigkeitsmarsches angeführt werden, konstatiert die Journalistin Joanna Gierak-Onoszko. Sie beschreibt in ihrem Blog bei Polityka.pl, wie sie die Ereignisse im Fernsehen wahrnahm:

„Der Kleine schaut mir über die Schulter, während wir uns Bilder vom Unabhängigkeitsmarsch ansehen: Feuerwerkskörper, Keltische Kreuze, Totenkopfmasken auf den Gesichtern. 'Ich habe Angst vor diesen Männern, Mama', sagt er. 'Ich habe auch Angst, Söhnchen. Aber mehr habe ich Angst vor all diesen Familien mit Kindern. ... Ich habe Angst vor diesen gewöhnlichen, guten Leuten, die jeden Sonntag in der Kirche niederknien und sich dann einem schändlichen Marsch durch Warschau anschließen. ... Denn nicht die Schlägertrupps sind die größte Gefahr, sondern die Familien mit Kindern.'“

Público (PT) /

Fall von politischer Schizophrenie

Über die Demonstration zum polnischen Unabhängigkeitstag kann man nur staunen, kommentiert Público:

„Polen ist ein merkwürdiger Fall politischer Schizophrenie. Das populistische Rezept von [dem Chef der polnischen Regierungspartei PiS] Jarosław Kaczyński existiert nur dank einer Art Geheimlehre, wonach die katholische Nation einer permanenten konspirativen Bedrohung ausgesetzt ist. Würde man die Waffe zum Schutz senken, würde das Land von arabischen Flüchtlingen überfallen, die Wirtschaft von Juden oder der polnische Staat von Kommunisten dominiert, die immer noch in den Ruinen des Warschauer Paktes lauern. All dies ist umso verwunderlicher, da Polen einen wirtschaftlichen Frühling erlebt und Osteuropa mit Statistiken anführt, die regelrecht beeindrucken.“

Sydsvenskan (SE) /

Giftiger Cocktail aus Religion, Rasse und Nation

Voller Sorge beobachtet Sydsvenskan die Geschehnisse in Polen:

„Vor dem Hintergrund der relativ neu gewonnenen Freiheit [1989] sind die Verlockungen des Nationalismus leichter zu erklären und sogar zu verstehen. Aber das ist keine Entschuldigung für diese nationalistischen Exzesse. ... Die europäischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts beweisen, wie gefährlich es ist, wenn die Dämonen der Geschichte freigelassen werden: Nationalismus und der Hass gegen die Anderen, die Fremden. Doch die politische Führung in Polen hat diese Lektion vergessen oder verdrängt. ... Sie scheint nicht zu verstehen, dass die Mehrheit in einer Demokratie auch die Meinungen und Interessen der Minderheiten berücksichtigen muss. Dass die Regierungsvertreter diesen giftigen Cocktail aus Rasse, Religion und Nation loben, ist erschütternd.“

Gość Niedzielny (PL) /

Rechtsextreme missbrauchen Gott

Autor Jacek Dziedzina distanziert sich im konservativen katholischen Magazin Gość Niedzielny klar von Nationalisten und Rassisten:

„Wenn eine Menschenmenge, in der man ein Transparent mit der Aufschrift 'Wir wollen Gott' sieht, aus tausenden Kehlen grölt 'Ganz Polen singt mit uns, Flüchtlinge verpisst euch', dann gibt es nichts zu besprechen mit diesen Leuten. Ich verständige mich eher mit den Linken, die die absurden Losungen einer naiven und sogar aggressiven politischen Korrektheit verbreiten. Wenigstens tun sie nicht so, als hätte das etwas mit dem Glauben an Gott zu tun. ... Sie sind, obwohl sie nicht immer diesen Eindruck machen, offener für die Erfahrung Gottes. Sie sind nicht dadurch belastet, dass sie Gott für ihre Ideologie einspannen.“

Baricada (RO) /

Aufschrei kommt verspätet

Dass internationale Beobachter erst jetzt die ultrarechten Nationalisten in Polen entdecken, wundert den Publizisten Boian Stanislawski auf dem Onlineportal Baricada:

„In diesem Jahr hat der sogenannte 'Marsch für die Unabhängigkeit' in Warschau weltweit Aufsehen bei Analysten und Experten erregt. Sie entdeckten 'die rechtsextreme Tendenz', die 'massiven faschistischen Märsche', die 'gefährlichen Slogans' und eine große Menge an antisemitischen und rassistischen Sprüchen. … Warum gab es keine so lautstarke Ablehnung, als sich die Demonstranten [in den Jahren zuvor] weitaus brutaler verhalten haben? Es ist verwunderlich, dass die Experten ausgerechnet in diesem Jahr darauf aufmerksam wurden. Denn die lokalen Faschisten haben sich diesmal für ihre Verhältnisse leidlich ruhig verhalten.“

De Telegraaf (NL) /

Eine Stimmung wie in den 1930er Jahren

In Polens Straßen regiert der Hass, zeigt sich De Telegraaf entsetzt:

„Das Klima des Hasses wird seit einigen Jahren von der regierenden PiS-Partei stimuliert, die ironisch genug noch den Namen 'Recht und Gerechtigkeit' trägt. ... Politiker haben eine Verantwortung für den Zustand in ihrem Land. Wenn eine Menge von Zehntausenden 'Gott! Ehre! Vaterland!' schreit, Ausländer und Andersdenkende mit dem Tod bedroht werden und White-Power-Plakate überall zu sehen sind, dann ist die Atmosphäre der schlimmen 1930er Jahre zurückgekehrt. Genau wie damals machen die marschierenden Nationalisten deutlich, wer für sie die Feinde Polens sind: Die sitzen erneut in Berlin und Moskau und zurzeit auch in Brüssel.“

Gazeta Wyborcza (PL) /

Euer Schweigen wird Eure Mitschuld sein

Jarosław Kurski, stellvertretender Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, klagt Polens schweigende Mehrheit an:

„Man kann sich am 11. November den Marsch in Warschau ansehen und nicht den Rassismus, den Antisemitismus, den Ausländerhass und die Islamfeindlichkeit wahrnehmen. ... Man kann ignorieren, dass an dem Marsch Vertreter faschistischer Organisationen aus Italien, der Slowakei und Ungarn teilgenommen haben. Man kann - so wie die gleichgültige Mehrheit - es sich in der Mitte bequem machen und nicht Stellung beziehen. ... Ihr alle, die ihr es seht, aber es nicht wahrhaben wollt; die ihr es hört, aber so tut als hättet ihr es nicht gehört; oder ihr, denen es einfach egal ist: Wisset, dass eure Schuld nicht kleiner sein wird, als die Schuld derer, die es sehen, hören, verstehen und sich freuen - weil ihnen die Faschisierung des öffentlichen Lebens in Polen gefällt.“

Denník N (SK) /

Regierungen ebnen Rechtsradikalen den Weg

Die Extremisten in Polen und in Ungarn sind deshalb so stark, weil selbst die Regierungen dort sich zum Extremismus hingewandt haben, urteilt Dennik N:

„Der Präsident des ungarischen Parlaments, László Kövér, nennt am Sonntag die liberale Demokratie ein totalitäres politisches System. In Warschau unternehmen gleichzeitig die Rechtsextremen ihren bisher größten Aufmarsch. Den Rechten in beiden Ländern geht es hervorragend, und den Hauptverdienst daran tragen die Regierungen. In Ungarn stagniert Jobbik zwar, doch die Regierung Orbán sieht sie als Konkurrenten und kritisiert sie - nicht aber deren faschistische Ansichten. ... In Polen ist die Entwicklung noch offensichtlicher. Dort begrüßt die Regierung einen Aufmarsch, der mit antisemitischen und rassistischen Parolen gespickt ist. Und Innenminister Mariusz Błaszczak bemerkt voller Freude, welch schönes Bild die Teilnehmer abgegeben hätten.“

wPolityce.pl (PL) /

Positive Botschaften für ein katholisches Polen

Adam Stankiewicz, ein junger Autor von wpolityce.pl, hat selbst an der Demonstration teilgenommen und kann nichts Negatives an dem Aufmarsch erkennen:

„Klar, wenn jemand unbedingt will, kann er den Unabhängigkeitsmarsch als eine Versammlung von Faschisten darstellen. Menschenmengen, die patriotische Losungen skandieren, Nationalflaggen, ab und zu Feuerwerkskörper, das ist ein erschreckender Anblick für die Linksliberalen, die Multikulti propagieren. Für sie reicht das schon, um die Teilnehmer als Faschisten zu bezeichnen. ... Auf dem Unabhängigkeitsmarsch konnte man eine positive Botschaft erkennen. Die Teilnehmer der Demonstration waren für ein katholisches Polen, das seine Tradition und Kultur respektiert.“