Merkel-Seehofer-Streit: Krise überwunden?

Innenminister Seehofer (CSU) und Bundeskanzlerin Merkel (CDU) haben ihren Asylstreit beendet: An der deutsch-österreichischen Grenze sollen "Transitzentren" errichtet werden, um bereits in anderen EU-Ländern registrierte Asylbewerber an der Einreise zu hindern und in die zuständigen Länder zurückzuweisen. Europas Presse sieht trotz der Einigung viel Porzellan zerbrochen.

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wPolityce.pl (PL) /

Fundament des Vertrauens ist zerstört

WPolityce.pl sieht nach dem erbitterten Streit nur Verlierer:

„Auch wenn es den Anschein hat, dass Seehofer der Hauptverlierer im Koalitionstheater der letzten zwei Wochen ist, gibt es für Merkel keinen Grund, zufrieden zu sein. Nach nur 100 Tagen gemeinsamer Regierung standen die Christdemokraten am Rande des Abgrunds. Die Kanzlerin musste sich der Tatsache stellen, dass sie so schwach war, dass sie ihren EU-Partnern keine für sie günstigen Lösungen mehr aufzwingen konnte, und dass das Vertrauen, das die Grundlage für eine stabile Koalition bildet, unwiederbringlich verloren war. ... Diese Koalition ist im Grunde genommen vorbei, aber es kann noch einige Monate oder mehrere Jahre dauern, bis sie tatsächlich zerbricht.“

hvg (HU) /

Nur ein einstweiliger Sieg

Das Wochenmagazin hvg sieht nach wie vor Streitpotential:

„Merkels und Seehofers unterschiedliche Sichtweise ist nicht neu. Der bayerische Politiker hat schon 2015 die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin verurteilt. Ende 2015 empfahl er, dass nur 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland hereingelassen werden sollten, und war bis zum Schluss dagegen, als es fast eine Million wurde. ... Zu der jetzigen Einigung hat wohl auch beigetragen, dass es Merkel gelungen ist, Seehofer in seiner eigenen Partei zu isolieren.“

Der Standard (AT) /

Deutsche Volksparteien schwer beschädigt

Vom Streit zwischen Merkel und Seehofer werden die deutschen Volksparteien sich lange nicht mehr erholen, sagt Der Standard voraus:

„Wie schwierig es ist, nach schweren Auseinandersetzungen wieder auf die Beine zu kommen, hätte die Union eigentlich bei den Sozialdemokraten sehen können. Sie haben das Drama um Martin Schulz immer noch nicht verarbeitet, wirken kraftlos und schaffen in Umfragen den Aufstieg nicht. Und so kommt man nach diesen Chaostagen in Berlin und München zu einem traurigen Fazit: Alle drei Parteien, die sich selbst noch als Volksparteien sehen, sind derzeit schwer beschädigt. So etwas bleibt hängen. Es wird noch lange dauern, bis sie sich von diesen unglaublichen Vorfällen und dem erbittert geführten Asylstreit wieder erholt haben werden.“

Lidové noviny (CZ) /

Bürger sehnen sich nach Normalität

Lidové noviny bezweifelt, dass die Bürger mit dem Kompromiss zufrieden sein werden:

„Egal, ob Seehofer oder Merkel als Sieger des Streits zu bezeichnen sind - die Mehrheit der Deutschen dürfte unzufrieden bleiben. Sie möchte, dass Merkel bleibt, aber die Rezepte von Seehofer umsetzt. Die Deutschen sähen laut Umfragen mehrheitlich nichts Schlechtes darin, wenn an den Grenzen nach drei Jahren wieder Gesetze gelten würden. Sie würden es als Rückkehr zur Normalität empfinden. Es endet die Zeit, in der die Debatte von Slogans bestimmt wurde, nach denen eine Grenze 'nur ein Strich auf der Landkarte' ist, die Migration 'sich nicht stoppen lässt' und alle sich 'damit abfinden müssten'.“

Daily Sabah (TR) /

Mit Muslimen gegen radikale Rechte solidarisieren

Die Lösung europäischer Probleme liegt nicht in der Abgrenzung, sondern in der Annäherung von Christen und Muslimen, kritisiert Daily Sabah die Haltung Seehofers:

„Die Christlich-Soziale Union (CSU) in Bayern befindet sich in einem Zustand der Panik angesichts der bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober. ... Name und Identität der Partei stehen in starkem Kontrast zu ihrer Haltung in der Flüchtlingsthematik. ... Für die Zukunft des europäischen Kontinents ist entscheidend, dass sich Christ- und Sozialdemokraten, Grüne und Liberale auf die Seite der Muslime und Türken stellen und deren Unterstützung erhalten. Christliche und muslimische Demokraten müssen die Garanten der Demokratie in Europa sein. Die Solidarität der Europäer gegen die Bedrohungen, die von Rassisten und extrem rechten Radikalen ausgehen, ist von zentraler Bedeutung.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Radikalisierte CSU erschüttert ganz Europa

Die CSU nimmt die Bundesregierung in politische Geiselhaft, beklagt der Tages-Anzeiger:

„Wie wirkungsvoll die von Merkel versprochenen Massnahmen sind, weiss zwar niemand. Aber selbst Kritiker ihrer Asylpolitik in der eigenen Partei sind der Meinung, dass die CSU Merkels Angebot eigentlich nicht ausschlagen könne, wenn es ihr noch um die ­Sache gehe. Das aber trifft vermutlich den Kern des Konflikts: In der CSU hat sich ein 'Merkel muss weg'-Radikalismus ausgebreitet, der bisher die Erkennungsmelodie der AfD war. Es ist verrückt genug, dass eine ziemlich kleine deutsche Regionalpartei fähig ist, die Bundesregierung in politische Geiselhaft zu nehmen. Die Folgen könnten freilich weit darüber hinaus reichen und nicht nur das grösste Land im Herzen Europas erschüttern, sondern die gesamte EU.“

ABC (ES) /

Rebellion aus Angst vor AfD

Mit seinem Verhalten schwächt Seehofer nicht nur Merkel, sondern auch Europa, kritisiert ABC:

„Die Zahlen sind eindeutig: In Wirklichkeit gibt es keinen Flüchtlingsansturm, schon gar nicht im Vergleich zu 2015. ... Was es gibt, ist eine politische Krise. ... Merkel ist das erste Opfer. Die bayrische CSU rebelliert, weil sie erstmals ihre Hegemonie bedroht sieht - von den Nationalisten der AfD. Das Problem hat eigentlich Horst Seehofer, der CSU-Chef und Bundesinnenminister, der gestern seinen Rücktritt anbot. Sein Problem will er auf Berlin und Brüssel übertragen, aber damit legitimiert er die Forderungen nach einer 'harten Hand' der AfD. ... Seehofer potenziert das Problem, statt es vernünftig zu lösen. Merkel wird weiter geschwächt. Und damit Europa, das eine starke Regierung in Berlin braucht.“

La Repubblica (IT) /

Konservative wurden von rechts verschlungen

Gegen die stärker werdenden reaktionären Kräfte in Europa kann Merkel nicht mehr lange bestehen, fürchtet der Brüsseler Korrespondent von La Repubblica, Andrea Bonanni:

„In einem Europa, das sich radikal nach rechts bewegt hat, hat Merkel ihre zentrale politische Position verloren. ... Sie ist nicht mehr die Bezugsperson einer gemäßigten und demokratischen europäischen Rechten, aus dem einfachen Grund, dass diese in Europa wie in Italien weitgehend von viel radikaleren reaktionären Kräften verschlungen wurde. Dieser Prozess entwickelt sich sowohl außerhalb als auch innerhalb der EVP (Orbán, Seehofer und der österreichische Kanzler Kurz gehören zur Volkspartei), ohne dass die einstige Partei von Kohl, De Gasperi und Moro eine politische oder kulturelle Grundlage findet, um diesen Rechtsruck aufzuhalten.“