Ist Kritik am Papst gerechtfertigt?

Erzbischof Carlo Maria Viganò hat Papst Franziskus in einem Brief vorgeworfen, Missbrauchsvorwürfe gegen den Washingtoner Erzbischof McCarrick vertuscht zu haben, um die "Schwulen-Lobby" im Vatikan zu schützen. Zuvor hatte der Papst Missbrauchsfälle in der Kirche scharf verurteilt. Die Kritik an Papst und Kirche sollte nicht zu weit gehen, mahnen Kommentatoren.

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Index (HU) /

Mit Franziskus' Rücktritt wäre niemandem geholfen

Mit den Vorwürfen an Franziskus verfehlt der ehemalige vatikanische Botschafter in Washington, Carlo Viganò, sein proklamiertes Ziel, analysiert Index:

„Papst Franziskus hat gerade eine historische Geste gemacht, indem er eine Null-Toleranz-Politik verkündet und außerdem für den sexuellen Missbrauch und den Machtmissbrauch um Entschuldigung gebeten hat. Viganòs Brief [in dem er die Vorwürfe formuliert] wirft einen Schatten auf diesen historischen Moment und versucht, ihn zu überschreiben. Aber er widerspricht sich selbst: Wenn es sein Ziel ist, dass die Kirche alles tut, damit solche Fälle in Zukunft nicht mehr vertuscht werden können, dann muss man Papst Franziskus genau dafür im Amt lassen und nicht zum Rücktritt auffordern.“

thejournal.ie (IE) /

Die guten Taten der Kirche nicht vergessen

Bei aller Kritik an der Kirche darf man nicht darüber hinweg sehen, dass diese im Laufe der Jahrhunderte viele Veränderungen zum Besseren in Europa bewirkt hat, mahnt der Theologe Thomas Finegan in thejournal.ie:

„Unter dem Einfluss der Kirche wurden noch vor dem Zusammenbruch des Römischen Reiches dem Kindesmord - der meistens Mädchen traf -, der Macht eines Vaters, über Leben und Tod in seiner Familie zu entscheiden, den Gladiatoren-Schauspielen und der Entstellung Krimineller ein Ende bereitet. Die Sklaverei wurde in westlichen Gesellschaften noch vor der Renaissance abgeschafft. ... In Bezug auf den Umgang mit behinderten Menschen war die Kirche einer der wenigen bedeutenden Gegner der Eugenik-Bewegung im frühen 20. Jahrhundert.“

De Volkskrant (NL) /

Die Kirche als stinkende Mistgrube

Das Erbe Franziskus' steht auf dem Spiel, analysiert De Volkskrant:

„Erstmals wird auch das päpstliche Weiß von der gigantischen Jauchegrube befleckt, die inzwischen die gesamte Kirche in einen stinkenden Nebel gehüllt hat. ... Der weltweite Missbrauchsskandal ist die größte Krise der katholischen Kirche seit der Reformation. Wie Franziskus damit umgeht, wird am Ende entscheiden, was für eine Kirche er hinterlassen wird und wie man sich an ihn selbst erinnern wird. ... Bisher aber hat sich noch nicht viel verändert. Im Gegenteil: Je tiefer der Kniefall des Papstes, umso lauter die Kritik. Das ist auch genau der Grund, warum bisher die Vertuschung ein viel genutztes Mittel im Vatikan war. Wer eine Mistgrube ausbaggert, kann Gestank erwarten.“

Corriere della Sera (IT) /

Vorwürfe dürfen nicht ignoriert werden

Auch wenn bekannt ist, dass Viganò zu den erbitterten Gegnern des Papstes gehört, sollte man die Anschuldigungen nicht abtun, rät der Vatikan-Experte Massimo Franco in Corriere della Sera:

„Viel Edelmut ist in der Initiative von Monsignore Viganò nicht zu erkennen. Zumindest fragt man sich, warum der ehemalige Nuntius fünf Jahre gewartet hat, bevor er mit seinen beschämenden Wahrheiten an die Öffentlichkeit ging. Der Gedanke, dass sich hinter dem Wunsch nach Gerechtigkeit der Durst nach Rache und ein Manöver der Gegner Franziskus' verbirgt, drängt sich von daher auf. Der Inhalt des Berichts bleibt jedoch bestehen: Treffen, Namen, Umstände, die zwar nicht unumwunden für bare Münze genommen werden können, zugleich aber auch nicht als das Ergebnis einer Verschwörung abgetan werden dürfen. Denn dies würde bedeuten, eine Geschichte mit beunruhigenden Konturen zu trivialisieren.“

Dnevnik (SI) /

Traditionalisten schlagen zurück

Dnevnik vermutet einen kircheninternen Machtkampf hinter der Angelegenheit:

„In dem Brief wird ein verschwörerisches Schweigen an der Spitze - wie es bei der Mafia der Fall ist - sowie das große Ausmaß der Homosexualität in der katholischen Kirche angeprangert. Vielleicht handelt es sich um einen abgestimmten Angriff der Traditionalisten. Ihnen missfällt, was Papst Franziskus in Irland gesagt hat. Der Papst ist mit Krisen konfrontiert, die Folge des sexuellen Missbrauchs von Kindern in der katholischen Kirche in den USA, Australien und Chile. Diese Geschichte wird sich noch lange hinziehen.“