Neue Eskalation im libyschen Bürgerkrieg

In Libyen versuchen die Milizen des Generals Khalifa Haftar, die große Teile des Landes kontrollieren, auf die Hauptstadt Tripolis vorzurücken. Dort hat die international anerkannte Regierung von Premier Fayez al-Sarraj ihren Sitz. Eine Erklärung im UN-Sicherheitsrat, die ein Ende der Angriffe forderte, wurde von Russland blockiert. Welche Folgen könnten die Entwicklungen in Libyen haben?

Alle Zitate öffnen/schließen
Dserkalo Tyschnja (UA) /

Internationale Gemeinschaft ist machtlos

Die Eskalation der Kämpfe um Tripolis zeigt, wie es um die Welt steht, findet der Politikwissenschaftler Mykola Samikula in Dserkalo Tyschnja:

„Die Situation um die libysche Hauptstadt zeigt deutlich die Tiefe der Krise, in der sich die internationale Gemeinschaft befindet. Die Unfähigkeit verantwortlicher internationaler Institutionen und westlicher Demokratien, eine Eskalation diplomatisch zu verhindern, ist eine ernsthafte Herausforderung. Ihr Instrumentarium reicht nicht aus, um den Konflikt zu beenden. Stattdessen nutzen andere Staaten, die an einem anderen Kräfteverhältnis arbeiten, die Situation aus. Eine Rückkehr einer Militärdiktatur, die von autoritären Regimen im Ausland unterstützt wird, wird immer wahrscheinlicher.“

Jyllands-Posten (DK) /

Paris bringt die EU in Schwierigkeiten

Jyllands-Posten kritisiert die Strategie Frankreichs in Libyen als heuchlerisch:

„Als die EU-Länder gemeinsam fordern wollten, 'umgehend alle militärischen Operationen einzustellen' und dass Haftar 'seine Truppen von Tripolis zurückzieht', wurde das von Frankreich blockiert. ... Um seine Ölinteressen in Libyen zu schützen, hatte Frankreich Haftar unterstützt. ... Wie in den meisten dysfunktionalen Ländern ist eine Verhandlungslösung die einzig denkbare, aber das ist unmöglich, wenn ausländische Kräfte aktiv die streitenden Parteien unterstützen. ... Als Konsequenz von Frankreichs außenpolitischer Heuchelei kann die EU in dieser Situation nichts anderes tun, als die Außengrenzen als Voraussetzung für die Schengen-Zusammenarbeit zu verteidigen.“

HuffPost Italia (IT) /

Unruheherd vor den Toren Europas

Die Eskalation wird in Europa nicht unbemerkt bleiben, prophezeit der Politikwissenschaftler Umberto De Giovannangeli in Huffington Post Italia:

„In Libyen gibt es etwa 800.000 Migranten, die beabsichtigen, über Italien nach Europa zu gelangen. Laut der italienischen Geheimdienste könnte die erste Welle etwa 6.000 Flüchtlinge umfassen, die bereit sind, in die Schlauchboote skrupelloser Schlepper zu steigen. Sie stammen aus Haft- oder Flüchtlingslagern. Ob die libysche Küstenwache in der Lage ist, den Meeresabschnitt unter Kontrolle zu halten, ist ungewiss. Klar hingegen ist, dass Tripolis heute kein sicherer Ort mehr ist [in den nach dem Seevölkerrecht Schiffbrüchige gebracht werden müssen]. Die Geheimdienste betonen auch die immer noch massive Präsenz von Gruppen, die direkt mit der IS-Miliz verbunden sind. Diese sind entschlossen, das Chaos zu nutzen.“

Snob (RU) /

Haftar hat nicht nur in Tripolis Gegner

Auch wenn Haftar Tripolis einnehmen sollte, bedeutet dies kein Ende des libyschen Bürgerkriegs, erklärt der auf die islamische Welt spezialisierte Politologe Kirill Semjonow in Snob:

„Dies würde es der internationalen Gemeinschaft sogar etwas einfacher machen. Denn die von der UN anerkannte Regierung in Tripolis verfügt nicht gerade über viel Macht. ... Haftar wird jedoch wohl kaum von der Stadt Misrata mit ihrer 'Misrata-Brigade' anerkannt werden. Das heißt, auch diese muss er gewaltsam einnehmen. Und die Berber gehorchen ihm auch nicht. Erstens, weil Haftar jedes Recht der Berber auf Autonomie ablehnt. Und zweitens, weil die mit Haftar verbundenen Kräfte einem Teil der Lehre des Ibadismus - einer sich von Schia und Sunna unterscheidenden Islam-Richtung - die Anerkennung verweigern. Und die meisten Berber sind eben Ibaditen.“

Právo (CZ) /

Von einer Diktatur zur nächsten

Libyen ist in der postdiktatorischen Ära ins Chaos geschlittert und Europa sieht seither hilflos zu, resümiert Právo:

„Der langandauernde Konflikt in Libyen ist für Europa mit Blick auf die Gefahr einer weiteren Migrationskrise außerordentlich risikoreich. Selbst wenn es zu keiner politischen Lösung kommt - was sehr wahrscheinlich ist - ist ein europäisches oder europäisch-arabisches militärisches Eingreifen unvorstellbar. Und so wird General Haftar die Kontrolle über das Land gewinnen. Und es schließt sich nach nicht einmal zehn Jahren der Kreis: von einem Diktator zum nächsten.“

Corriere della Sera (IT) /

Italien wird die Folgen tragen

Italien droht wegen der wiederaufgeflammten Kämpfe in Libyen eine neue Flüchtlingswelle, mahnt Kolumnist Goffredo Buccini in Corriere della Sera:

„Unter den vielen Playern dieses geopolitischen Spiels gibt es vor allem einen, der riskiert, den Preis zu zahlen: Italien. Da die Küste von Lampedusa nicht einmal 400 Kilometer von den Angriffen der klapprigen Kampfflugzeuge, den Fehden und dem Stammesverrat, den Einfällen schlecht bewaffneter und schlecht ausgebildeter Banden entfernt ist, sollten wir vielleicht am aufmerksamsten sein. Denn die einzige Sicherheit in dieser inszenierten Guerillakriegsführung ist die Destabilisierung. Dabei werden wir diejenigen sein, die die schwerwiegendsten Folgen einer neuen Instabilität in Libyen tragen werden.“

Asharq Al-Awsat (SA) /

General kann Chaos beenden

Regionale und internationale Mächte unterstützen insgeheim die Pläne von General Haftar, glaubt die saudi-arabische Zeitung Asharq Al-awsat:

„Obwohl alle Regierungen zu einer friedlichen Lösung und dem Ende der militärischen Handlungen aufrufen, hätten sie nichts dagegen, wenn es zu einer entscheidenden militärischen Lösung unter der Führung von Khalifa Haftar kommen würde. Die politischen Kommuniqués aus Paris, Washington, Moskau und Kairo drohten nicht mit Sanktionen, sondern riefen zu einer politischen Lösung auf, von der alle wissen, dass sie nicht realisierbar ist. ... Die Verhandlungen mit den Milizen wären sowieso gescheitert, da sie darauf bestehen, ihre Waffen, die Erdölfelder und ihre Gebiete zu behalten.“

Corriere della Sera (IT) /

Haftar wird sich niemals unterordnen

Die UN wollen, dass General Haftar die nationale Armee führt, das Oberkommando jedoch bei einer zivilen Behörde bleibt. Genau dieser Kompromissvorschlag brachte den Stein ins Rollen, erläutert der Experte für Geopolitik Franco Venturini in Corriere della Sera:

„Der General, der der neue Gaddafi werden will, soll sich dem Befehl eines Zivilisten, vielleicht gar al-Sarraj, unterordnen? Niemals. Ende März absolvierte Haftar, der bereits mit der Unterstützung Ägyptens und der Vereinigten Emirate ebenso wie mit der Frankreichs und Russlands rechnen kann, einen kurzen Besuch in Saudi-Arabien, das längst sein wahrer Geldgeber ist. Hier holte er sich Mittel und Rückendeckung. Die Operation Tripolis konnte beginnen. Ziel ist es, der UN und der gesamten internationalen Gemeinschaft klarzumachen, dass Haftar diesen Kompromiss nicht akzeptiert.“

taz, die tageszeitung (DE) /

In Afrika schert sich Frankreich nicht um Europa

Dass Europa über den Umgang mit Libyen so heillos zerstritten ist, liegt vor allem an Frankreich, stellt die taz klar:

„Denn Frankreich ist aus der gemeinsamen Position der Unterstützung eines politischen Prozesses ausgeschert und unterstützt einseitig Haftar und seine militärische Lösung. ... Frankreich sieht sich in der Sahara- und Sahelzone als militärische Ordnungsmacht Nummer Eins. ... Und wie immer, wenn es um Afrika geht, sieht Frankreich auch in Libyen nicht die geringste Veranlassung, seine Politik mit anderen europäischen Partnern abzusprechen. Die EU darf diplomatische Legitimität liefern und Rahmen setzen, innerhalb derer andere europäische Länder Frankreich helfen, die Lasten seines Engagements zu tragen, aber das Engagement selbst definiert Paris bitteschön allein.“

Avvenire (IT) /

Wer das Öl kontrolliert, hat die Macht

Alle Akteure haben in diesem Konflikt nur das eine im Sinn, konstatiert Kolumnist Giorgio Ferrari in Avvenire:

„Man braucht keine Kristallkugel, um zu sehen, dass Haftar nicht aus eigener Initiative heraus gehandelt hat. Hinter dem kriegerischen Auftreten des Satrapen aus Kyrenaika stecken ungestillte Ölgelüste, die von Frankreich befeuert werden, aber eigentlich das wahre Interesse aller Seiten sind, einschließlich Italien. 90 Prozent der libyschen Einnahmen stammen aus Rohöl und Erdgas. Die Vorkommen sind die größten in Afrika und gehören zu den Top Ten der Welt. Es sind die Ölvorkommen in der Wüste und die Pipelines des Golfs von Sirte, die Haftar endgültig unter seine Kontrolle zu bringen versucht: Wer das Öl kontrolliert, hat ganz Libyen in der Hand.“

NV (UA) /

Warum Putin auf Haftar setzt

Eine Machtübernahme durch Chalifa Haftar wäre in Moskaus Interesse, erklärt Nowoje Wremja:

„Sollte er siegen und die Macht in Libyen übernehmen, bekäme Russland ein starkes Druckmittel gegenüber der Europäischen Union: die Möglichkeit, die Flüchtlingsströme zu kontrollieren, die über Libyen in die EU wandern. Würde Haftar verkünden, dass er die Grenzen für alle öffnet, die nach Europa wollen, würden sich zwei Drittel der Bevölkerung des afrikanischen Kontinents auf den Weg dorthin machen. Um dem Einhalt zu gebieten, wäre Europa zu allen Zugeständnissen bereit. Und da würde Putin mit seinem Einfluss auf den libyschen Feldmarschall auftauchen.“

The Daily Telegraph (GB) /

Erneut rächt sich Kurzsichtigkeit

Mit seinem Militäreinsatz schuf der Westen 2011 ein Machtvakuum, das Libyen ins Chaos führte, klagt The Daily Telegraph:

„Die Situation in Libyen ist ein Lehrbeispiel für das Scheitern westlicher Interventionen. Auf der einen Seite wollten die Europäer unbedingt Gaddafi loswerden, einen blutrünstigen Diktator, dem ein Aufstand des eigenen Volkes drohte. Auf der anderen Seite wollten sie sich nicht dem Aufbau staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen verpflichten. Das war im Irak versucht worden und hatte viel Geld und viele Menschenleben gekostet. ... Es ergibt absolut keinen Sinn, in einem Land zu intervenieren und sich dann nicht um die Folgen kümmern zu wollen. ... In Zukunft muss es in solchen Fällen langfristige Planungen geben, und die Politiker müssen ehrlich sagen, was damit verbunden sein wird.“