Österreich von handfester Regierungskrise erfasst

In Österreich wackelt im Zuge der Strache-Affäre auch der Stuhl von Kanzler Sebastian Kurz. Dieser hatte am Montag die Entlassung von Innenminister Herbert Kickl eingeleitet, worauf die FPÖ mit dem Rücktritt ihrer gesamten Ministerriege reagierte. Nach der Europawahl will die Opposition einen Misstrauensantrag gegen Kurz stellen - den dann auch die FPÖ unterstützen könnte. Wie geht es weiter?

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Frankfurter Rundschau (DE) /

Nicht nur FPÖ-Wähler sind Nationalisten

Dass der Koalitionsbruch zu einem Politikwechsel in Österreich führt, glaubt die Frankfurter Rundschau nicht:

„Hinter Straches 'freiheitlicher' Partei steht ein sattes Viertel rechter Stammwähler, und das schon lange. Ihnen ist die Sache wichtiger als die Führungsfigur. Sie sind von der Parteiparole 'Österreich zuerst' elektrisiert und wollen es denen in Brüssel ebenso wie den Ausländern im eigenen Land so richtig zeigen. Gerade eben erst hat die Wiener Regierungskoalition unter allgemeinem Beifall allen, die nach ihrem Geschmack nicht gut genug Deutsch sprechen, die Sozialhilfe auf einen Betrag weit unter dem Existenzminimum gekürzt. So solide, so breit ist die Unterstützung für den nationalistischen Kurs, dass er weit über die Wählerschaft der FPÖ hinausgeht und auch der ÖVP-Kanzler sich täglich davon nährt.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Implosion der FPÖ zeichnet sich nicht ab

Ohne die FPÖ wird sich Sebastian Kurz erstmal umschauen, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:

„Der Kanzler ist in der Bevölkerung nach wie vor sehr populär und hat sich wohl deshalb auch rasch für Neuwahlen entschieden. ... Doch eine Implosion der FPÖ, von der die ÖVP profitieren würde, zeichnet sich nicht ab. Damals [nach dem Bruch der Koalition ÖVP-FPÖ 2002] hatte es die Partei aufgrund interner Querelen zerrissen. Heute zeigt sie sich geeint und kämpferisch. Kurz wird eine neue Mehrheit suchen müssen. Dabei kann er nicht darauf vertrauen, dass ein Zusammengehen mit einer kleinen Partei wie den naheliegenden bürgerlich-liberalen Neos oder den für ihn aus inhaltlichen Gründen schwierigeren Grünen dafür ausreicht. Es bleiben die Sozialdemokraten, denen Kurz in tiefer persönlicher Feindschaft verbunden ist“

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Der Standard (AT) /

Kurz ist kühler Maschinist der Macht

Sebastian Kurz verhält sich nicht wie ein souveräner Regierungschef, klagt Der Standard:

„Kurz hat alle Warnungen in den Wind geschlagen, und so steht er nach kaum eineinhalb Jahren türkis-blauer Regierungsarbeit da und ruft wieder einmal Neuwahlen aus. Er hat seinen Partner, der nunmehr sein politischer Feind ist, falsch eingeschätzt - und versucht daraus Profit zu schlagen. Kurz nutzt seine Auftritte als Kanzler, bei denen alle auf eine Erklärung der Geschehnisse warten, für unverblümte Wahlkampfansprachen und verliert sich in Selbstlob. Da ist er nicht der souveräne Regierungschef, sondern ein eifriger Machttaktiker und Parteipolitiker, ganz ohne Genierer.“

Ukrajinska Prawda (UA) /

Kurz kann sich ins Fäustchen lachen

Der Strache-Skandal dürfte die Position von Kanzler Kurz bei der vorgezogenen Neuwahl stärken, meint die Publizistin Krystyna Bondarewa in Ukrajinska Prawda:

„Ein zweites Mal ist die Beteiligung der FPÖ an einer Regierung zu einem Problem geworden. ... Erinnern wir uns: die Freiheitlichen waren schon 1999 eine Koalition, ebenfalls mit der Volkspartei, eingegangen. Damals haben die Minister der FPÖ sehr unprofessionell gearbeitet. Und damals noch hatte die EU gegen Österreich wegen der Beteiligung der Rechtsradikalen an der Regierung Sanktionen verhängt. Heute sind sich die österreichischen Liberalen und die Kräfte von Mitte-Links einig, dass die Freiheitlichen nun wirklich ihre Unfähigkeit bewiesen haben, einen Staat zu lenken. Letztendlich werden dieser Skandal und die vorgezogene Wahl aber der Volkspartei von Kurz helfen.“

Der Standard (AT) /

Eine günstige Gelegenheit

Auch Der Standard meint, dass das Video für Kurz genau zur rechten Zeit kommt:

„Zuletzt ist die ÖVP für ihre Zusammenarbeit mit der FPÖ wegen der vielen rechten 'Einzelfälle' auch in der eigenen Wählerschaft unter Druck geraten. Um seine Regierung fortführen zu können, musste der Kanzler bereits einen internationalen Imageverlust für sich und für das ganze Land hinnehmen. Mit dem Video kam die Gelegenheit, sich des problematischen Partners zu entledigen. ... Kurz' Bild ist: Nur er steht für Veränderung. Damit kehrt er zurück zu seinem ursprünglichen Wahlversprechen, für das ihn viele Menschen gewählt haben. Kein Wort davon, dass Kurz es war, der die Rechten in höchste Ämter geholt und sie salonfähig gemacht hat; kein Wort davon, dass er als Regierungschef zu verantworten hat, dass seine Regierung gescheitert ist.“

Financial Times (GB) /

Der "Kurzismus" ist am Ende

Konservative in ganz Europa sollten sich genau anschauen, was derzeit in Wien passiert, rät hingegen The Financial Times:

„Die Affäre ist verheerend für die Freiheitliche Partei, den Juniorpartner in der österreichischen Regierungskoalition. Doch sie ist auch eine schwere Niederlage für Österreichs jungen Mitte-rechts-Kanzler, Sebastian Kurz. Dieser Rückschlag für ihn wird in ganz Europa Widerhall finden. ... Kurz inspirierte andere junge politische Führer im Mitte-rechts-Lager, darunter Pablo Casado in Spanien und Laurent Wauquiez in Frankreich. Casado wählte bei der spanischen Parlamentswahl im vergangenen Monat die Kurz-Strategie - mit verheerenden Folgen. Wauquiez bemüht sich seit Kurzem zu betonen, dass er der Führer der Rechten und des Zentrums ist. Der "Kurzismus" ist als politische Philosophie, wenn es ihn denn als solche jemals gab, am Ende.“

Lidové noviny (CZ) /

Wem nutzt das Strache-Video?

Mit welchem Ziel die versteckten Aufnahmen veröffentlicht wurden, bleibt unklar, meint Lidové noviny:

„Am Fall der österreichischen Regierung fasziniert, wie schnell er auf der Grundlage nur wenig überprüfter Informationen zustande kam. Er dauerte nur zwei Tage, obwohl völlig unklar ist, wer hinter dem Video steht. ... So lange nicht klar ist, wie das genau mit der Aufnahme war, wer sie wann anfertigte und weshalb, und warum sie gerade jetzt an die Öffentlichkeit gebracht wurde, stellt sich die klassische Frage: Cui bono? Die Antwort könnte lauten, dass die Veröffentlichung im Interesse eines fairen Wettstreits und der Demokratie [vor der Europawahl] ist. Doch dazu tragen Aufnahmen unbekannter Herkunft nicht wirklich bei.“

Ria Nowosti (RU) /

Gezielter Schlag vor der EU-Wahl

Dass das Video nicht schon 2017 veröffentlicht wurde, direkt als es kurz vor der Wahl in Österreich aufgenommen wurde, erstaunt Ria Nowosti nicht:

„Es hätte die FPÖ damals verlässlich versenkt. ... Doch in Schlüsselfragen, die ausländischen Mächten Sorgen machten (russisches Gas und Einwanderung), sind FPÖ und ÖVP einer Meinung, deshalb wäre es sinnlos gewesen, Strache zu diskreditieren, damit Kurz mehr bekommt. Aber jetzt, während der Vorbereitungen auf die EU-Wahl 2019, bekommt alles seine Logik. Es wurde nicht nur einmal geschrieben, dass bei dieser Wahl das gesamte progressive Europa mit Schrecken auf die Erfolge der 'Euroskeptiker, Nationalisten und Populisten' wartet. Und nicht neu ist auch: Die beste Methode zur Diskreditierung dieser 'Populisten' ist, sie zu 'Putin-Marionetten' zu erklären.“

Corriere della Sera (IT) /

Der Mann ohne Eigenschaften

Die Widersprüchlichkeiten der Person Strache zeigt Corriere della Sera auf:

„Er wollte ein Patriot sein. Aber er war bereit, sein Land an einen russischen Oligarchen zu verkaufen. Er verurteilte die endemische Verquickung zwischen Finanzen und Politik und beanspruchte für sich und seine Partei Reinheit und Unbestechlichkeit. Doch er wartete nur darauf, selbst bestochen zu werden. Er stellte sich als Verteidiger einer wahren Demokratie dar. ... Doch gleichzeitig träumte er von einer domestizierten Medienlandschaft nach dem Vorbild Ungarns. ... Er wähnte sich selbst als klug und mit allen Wassern gewaschen. Aber er war ein Narr, eine leichte Beute für eine junge Mata Hari, noch bevor er ein paar Gläser Champagner und Wodka trank. Das ist die Tragödie eines Mannes ohne Eigenschaften.“