Kein Ausweg aus der Katalonien-Krise?

Seit der Verurteilung der Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren gehen in Barcelona täglich Tausende auf die Straße. Für Freitag wurde zu einem Generalstreik und Blockaden aufgerufen. Der Konflikt steckt in einer Sackgasse, beobachten Kommentatoren.

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Le Monde (FR) /

An dieser Sackgasse sind beide Seiten schuld

Die Politik hat versagt, bedauert Le Monde:

„Diese politische Krise hätte nie vor der Justiz enden dürfen. In diese Sackgasse geriet man sowohl aufgrund der Unfähigkeit der vorherigen spanischen Regierung, einen Kompromiss im Umgang mit dem separatistischen Bestreben der katalanischen Spitzenpolitiker zu finden, als auch durch die Sturheit und die Flucht nach vorne in Richtung Ungehorsam und Illegalität der Anführer der Unabhängigkeitsbewegung. Die Gefängnisstrafen sind also vor allem ein Symbol für das Scheitern der Politik. ... Das Urteil verstärkt bei den Katalanen zusätzlich das Gefühl, ein Sonderfall zu sein.“

El País (ES) /

Ministerpräsident Torra ist das Problem

Der katalanische Ministerpräsident Quim Torra verhindert einer Lösung und muss weg, meint El País:

„Mit seiner Fixierung auf das Vorhaben, Katalonien von Spanien loszulösen, hat er die Spaltung der Katalanen vertieft und die Unabhängigkeitsbewegung in eine Sackgasse geführt. ... Das Urteil war nicht der Funke, der den Brand in Katalonien entfachte, wie Torra behauptet. Vielmehr war es der Vorwand, auf den Torra und sein Mentor [Carles Puigdemont] lange gewartet hatten, um sich gegen den Zentralstaat zu stellen. Doch die Koalitionspartner lassen ihn in diesem Kampf alleine. ... Das Schicksal dieses als Stellvertreter [von Puigdemont] angetretenen Ministerpräsidenten ist besiegelt.“

Der Bund (CH) /

Spanien will auch Puigdemont

Nach der Verurteilung der in Spanien verbliebenen katalanischen Separatistenführer wurde nun auch der Europäische Haftbefehl gegen den nach Belgien geflohenen ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont erneuert. Die belgische Justiz ist im Zwiespalt, beobachtet Der Bund:

„Kategorisch Nein sagen, wie bei der alten Konstruktion der Rebellion, wird sie diesmal nicht können. Aber zustimmen, wenn einem stets der Gewaltfreiheit verpflichteten europäischen Politiker eine Gefängnisstrafe von über 13 Jahren droht? Das würde in Brüssel die Stimmung gegenüber der latent unzufriedenen Minderheit der Flamen zweifellos verschlechtern. Und es würde die EU auf Jahre hinaus der Chance berauben, in diesem Konflikt als Vermittlerin aufzutreten. Brüssels Justiz hat sich erst einmal Bedenkzeit genommen.“

newsru.com (RU) /

Es wird noch spannend in Europa

Über das Spannungsfeld zwischen staatlicher Integrität und Recht auf Selbstbestimmung sinniert der russische Sozialpsychologe Alexei Roschtschin in einem von Newsru.com übernommenen Kommentar:

„Sehr seltsame Dinge geschehen in Europa. Obwohl mal anmerken sollte, dass solche Bredouillen praktisch immer dann geschehen, wenn es um das berüchtigte 'Recht der Nationen auf Selbstbestimmung' geht. Das sind hier schon sehr unbestimmte Formulierungen, in Wirklichkeit ist es aber ein eingebauter und unlösbarer Widerspruch. Auf der einen Seite stehen 'staatliche Integrität' und 'Kampf gegen Separatismus', auf der anderen eben jenes 'Recht der Nationen'. Es gibt keine Regeln, wie das untereinander abzustimmen wäre. Und es kommen ja noch die Versuche Schottlands, sich von Großbritannien zu lösen! Es wird interessant.“

Jutarnji list (HR) /

Die Demonstranten stellen wichtige Fragen

Dass das Urteil viele Katalanen auf die Straße treibt, findet Jutarnji list nachvollziehbar:

„Die Demonstranten stellen vor allem diese Fragen: Ist das Urteil gegen die katalanischen Politiker demokratisch? Welche Funktion erfüllt die Justiz in Spanien und ist sie politisch unabhängig? ... Für sexuelle Belästigung droht eine Strafe von ein bis drei Jahren Gefängnis, für Vergewaltigung sechs bis zwölf Jahre, auf Mord stehen zehn bis 15 Jahre. Die Katalanen empfinden es als große Ungerechtigkeit, neun bis 13 Jahre Haft dafür zu verhängen, dass man ein politisches Ziel verwirklichen wollte, das per Referendum mit politischer Mehrheit beschlossen wurde.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Madrid verbaut sich den Dialog mit Barcelona

Mit dem Urteil kappt Madrid einen wichtigen Draht zu den Katalanen, bedauert der Tages-Anzeiger:

„In Katalonien empfindet man den Richterspruch aus Madrid als Rache und vermisst - zu Recht - jede Verhältnismässigkeit. 13 Jahre Gefängnis ist die Strafe für ein Kapitalverbrechen, und sie trifft mit dem ehemaligen katalanischen Vizeminister Oriol Junqueras ausgerechnet den wichtigsten Gesprächspartner jeder künftigen spanischen Regierung. ... Mit dieser Kriminalisierung beraubt sich Madrid eines wichtigen Gesprächspartners, vielleicht des wichtigsten auf katalanischer Seite und gegenwärtig einzig dazu legitimierten. Man kennt solche Vorgänge aus den jahrzehntealten Konflikten Israels mit den Palästinensern oder der Türkei mit den Kurden und rätselt, ob sie Strategie sind oder bloss Dummheit. Fest steht, dass sie diese Konflikte unlösbar gemacht haben.“

Público (PT) /

Eine Begnadigung könnte jetzt Wunden heilen

Eine demokratische und tolerante Geste könnte den Radikalismus entwaffnen, glaubt Público:

„Es ist Sache der Gerichte, sich an das Gesetz zu halten und keine Politik zu betreiben. Aber die Katalonien-Krise ist überaus politisch. Wie sollte man also mit diesem Gerichtsurteil umgehen? Sollte die spanische Demokratie Strafen mit der vom Gesetz vorgesehenen Strenge durchsetzen oder eine Tür für friedliche Lösungen öffnen? Eine Bestrafung schafft Märtyrer und stachelt die Radikalisierung des nationalistischen Virus an. Eine Begnadigung der Verurteilten könnte Wunden heilen und den Dialog wiederherstellen. Über diese Optionen sollte eine entscheidende und wegweisende Debatte geführt werden.“

Delo (SI) /

EU mischt sich nur bei den Schwachen ein

Dass sich die EU aus wichtigen politischen Krisen wie der in Katalonien heraushält, hält Delo für einen Fehler:

„Die katalanische Unabhängigkeit ist eine politische Angelegenheit. Europa scheint in erster Linie kein politischer Zusammenschluss zu sein. Denn sonst hätte die EU die katalanischen Hilferufe wohl schon vor langer Zeit gehört. Und fast alle Regierungschefs Europas und deren Außenminister hätten nicht jahrelang wiederholt, dass die Katalonien-Frage eine innenpolitische Angelegenheit Spaniens sei. ... Wegen der wirtschaftlichen Stärke Spaniens wurde es von niemandem in der EU wegen der Katalonien-Frage ermahnt. Den Zeigefinger erhob man nur hin und wieder gegen schwächere Staaten wie Ungarn oder Polen. ... Die europäische Politik ist blutleer, die politische Krise ist groß - in Katalonien und Spanien wie im Europa der unterschiedlichen Standards.“

Corriere del Ticino (CH) /

Keine Demokratie außerhalb des Rechtsstaats

Das Urteil der Richter von Madrid setzt der Rechtsstaatlichkeit ein Denkmal, lobt Chefredakteur Fabio Pontiggia in Corriere del Ticino:

„Der Gerichtshof hat an eine Wahrheit erinnert, die in dieser vom Populismus geprägten politischen Zeit allzu oft vergessen wird: Es gibt keine Demokratie außerhalb der Rechtsstaatlichkeit. ... Mit anderen Worten, es gibt keine politischen Rechte, die unter Verletzung der Gesetze und der Verfassung eines freien und demokratischen Landes ausgeübt werden können. ... Die zwölf separatistischen Vertreter wurden nicht wegen ihrer Ideen, nicht wegen ihrer politischen Vision, die sie frei propagieren können, sondern wegen der kriminellen Handlungen verurteilt, die sie beim Versuch begingen, diese Vision unilateral umzusetzen.“

De Morgen (BE) /

EU sollte sich Spaniens Justiz vorknöpfen

Ganz anders urteilt De Morgen:

„Wo demokratischer politischer Widerstand als Verbrechen klassifiziert wird, bröckelt der Rechtsstaat. Das gilt für die europäischen Mitgliedstaaten Polen und Ungarn, und das gilt genauso für den europäischen Mitgliedstaat Spanien. Es würde die Europäische Union zieren, wenn sie auf die katalanische Frage ebenso entschlossen reagieren würde wie auf die Entwicklungen in Ost-Europa. ... Die katalanischen Separatisten haben etwas gewagt, aber nicht deutlich genug gewonnen, und sind dann die Flucht nach vorne angetreten. Aber dennoch kann Repression gegen den politischen Gegner in einem Rechtsstaat nie eine gute Antwort sein.“

Dagens Nyheter (SE) /

Von politischen Gefangenen kann keine Rede sein

Den Vorwurf, die Separatisten seien politische Gefangene, weißt Dagens Nyheter wiederum zurück und erklärt:

„Die Tat war illegal. Niemand hat sie doch daran gehindert, ihre Meinung zu äußern. Es ist absolut legitim, ein unabhängiges Katalonien zu wollen, aber es geht nicht, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und eine demokratisch festgelegte Verfassung zu ignorieren. Politische Gefangene? Natürlich nicht. Wirklich undemokratisch wäre es, die Separatisten über die Hälfte der katalanischen Bevölkerung bestimmen zu lassen, die sich definitiv nicht von Spanien trennen wollen.“

La Vanguardia (ES) /

Jetzt auf moderate Kräfte setzen

La Vanguardia fordert die Katalanen dazu auf, nun in die Zukunft zu blicken:

„In knapp vier Wochen, am 10. November, haben wir Parlamentswahlen: Es ist die perfekte Gelegenheit, um eine neue politische Ära einzuläuten und um jener Regierung das Vertrauen zu schenken, die auf Dialog als Lösung setzt und damit den Wunsch der meisten Katalanen ernst nimmt. Wir brauchen Repräsentanten, die mit Dialogfähigkeit und Kompromissbereitschaft antreten und alle Empfindsamkeiten im Land berücksichtigen. Und die entschlossen für mehr Selbstverwaltung eintreten. Vorwürfe und systematische Kritik am Gegner fruchten nicht. Einseitige Entscheidungen haben nichts gebracht. ... Katalonien kann so nicht weitermachen. Wir müssen über das Urteil hinausblicken, mit Gelassenheit und der Überzeugung, dass es einen Weg gibt, um die Dinge anders und besser zu machen.“