Demos gegen Corona-Regeln: Sozialer Sprengstoff?

In immer mehr europäischen Ländern formieren sich Proteste gegen die Beschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie. So gingen am Wochenende unter anderem in Deutschland, Großbritannien, Polen, Spanien und der Schweiz Menschen auf die Straße. Kommentatoren können manche Sorgen und Anliegen der Demonstranten nachvollziehen - doch warnen sie vor einer gefährlichen Gemengelage.

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Der Standard (AT) /

Protest ja - aber nicht mit Rechten und Spinnern

Mit Sorge beobachtet Der Standard die heterogenen Anti-Corona-Demos:

„Auf den Demos treten auch Impfgegner auf, die inbrünstig die These verbreiten, es würde das Virus gar nicht geben. ... Empathie mit Menschen, die am Coronavirus erkrankt oder verstorben sind, ist nicht zu finden. Dafür hört man Sätze wie: 'Es trifft ja eh nur Alte und Schwache.' Das passt zum Weltbild einer weiteren Gruppe, die immer bei den Demos auftritt: Rechtsextremisten, die dort ihre Propaganda verbreiten. Und dann gibt es Teilnehmer, die sich Sorgen um ihre Zukunft, ihren Job oder um die Beibehaltung demokratischer Grundrechte machen. Daran ist rein gar nichts auszusetzen. Das Virus ist eine Zumutung, aber deswegen muss sich niemand mit Rechtsextremen oder Corona-Leugnern gemeinmachen. Wenn diese auftauchen, ist es besser, nach Hause zu gehen oder eine eigene Demo zu organisieren.“

Adevărul (RO) /

Wir stehen erst am Anfang einer Reihe von Krisen

Es könnte ein Protestsommer werden, meint Politikanalyst Iulian Chifu in seinem Blog bei Adevărul:

„Wir sind noch lange nicht am Ende. Vielmehr beginnt gerade erst, dass sich aus der Pandemie eine Vielzahl sich überschneidender und gegenseitig verstärkender Krisen ergibt. Ein fruchtbarer Boden für Falschinformation und Manipulation, die sich in Protestbewegungen entladen. Schon die Aussicht auf die sozialen Beben, die durch eine Rezession ausgelöst werden, spricht für einen heißen Sommer. … Der Versuch, die Krise durch effizientes Regieren und Präventionsmaßnahmen zu bewältigen, könnte dann schnell vom Lärm professioneller Falschinformationen übertönt werden und von der Angst der Menschen, ihren Status, ihr Lebensniveau, ihren Job oder ihr kleines Familienunternehmen zu verlieren.“

El HuffPost (ES) /

Der Freiheitsbegriff der Oberschicht

In Madrid demonstrieren Bewohner des Villenviertels Salamanca für Freiheit und gegen die Ausgangssperre. Der Psychologe José Errasti wirbt in El HuffPost ironisch um Verständnis:

„Man muss sie verstehen: Sie sind es nicht gewohnt, Befehle auszuführen, denn normalerweise geben sie sie. Und Anordnungen zu folgen braucht, wie alles im Leben, etwas Übung. ... Ihre Vorstellung von Freiheit lässt sich mit dem folgenden Satz zusammenfassen: 'Man darf Freiheit nicht mit Zügellosigkeit verwechseln'. Dabei ist 'Freiheit' das, was es ihnen erlaubt, zu tun was sie wollen. Und 'Zügellosigkeit' ist dasselbe in Bezug auf alle anderen. ... Wie bei Bildung und Gesundheit gibt es in ihren Augen eine 'öffentliche Freiheit' für Leute, die sich die 'private Freiheit' nicht leisten können. Aber sie können es sich leisten, schließlich haben sie das ganze Leben hart geerbt. ... Freiheit, um andere anzustecken.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Primitives Freiheitsverständnis

Wie die Demonstranten auf Eigenverantwortung pochen, hält die Frankfurter Allgemeine Zeitung für reichlich verkürzt:

„Ohne Rücksicht auf Abstandsregeln, ohne Mundschutz, ... ohne Verstand wurde in Stuttgart und anderswo für eine Freiheit geworben, die eine Freiheit ohne Maß, ohne Verantwortung, ohne Folgenabschätzung, ohne Staatsbürgerlichkeit ist. Diese Freiheit gehört aber nicht zu den Grundrechten. Sie gehört ins Grundgesetz der Primitivität. ... Die Eigenverantwortung, die von den Protestierenden so gerne im Munde geführt wird, ist in Wahrheit eine Ego-Verantwortung, ein Widerspruch in sich. Eigenverantwortung hieße, in Betracht zu ziehen, dass das eigene Verhalten dazu führen könnte, andere zu infizieren – und damit in ihrer Freiheit auf dramatische Weise einzuschränken.“

Blick (CH) /

Keine Meinung, sondern Dummheit

Die Boulevardzeitung Blick findet harsche Worte für die Protestierenden:

„Stellen Sie sich vor, ein ganzes Dorf löscht ein brennendes Haus mit Wasser. Nur einer kippt von der anderen Seite Benzin in die Flammen. So geschieht es gerade in Deutschland. In Berlin, in München, in Hamburg protestieren Hunderte gegen die Corona-Massnahmen der Regierung. ... Ein Schlag ins Gesicht für all jene, die sich seit Wochen zu Hause verschanzen. Aus Sorge um die eigene Gesundheit. Aus Angst um ihre Lieben. Oder schlicht aus Solidarität. ... In den sozialen Netzwerken befeuern sie [die Protestierenden] die 'Corona-Skeptiker'. Was bitte ist das überhaupt für ein Wort? Wie kann man einer globalen Pandemie 'skeptisch' gegenüberstehen? Die Empfehlungen von Experten weltweit, der WHO und sämtlicher demokratischen Regierungen radikal anzuzweifeln, ist keine Meinung, sondern Idiotie.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Laut und schrill, aber ohne Relevanz

Die taz empfiehlt Gelassenheit:

„Denn all das ist auch ein flüchtiger Effekt der Aufmerksamkeitsökonomie. Selten war es leichter, die Scheinwerfer auf sich zu richten. ... Diese neue Querfront ist nicht so einflussreich, wie sie es in ihren Filterblasen suggeriert. Weniger als zehn Prozent lehnen, laut einer ARD-Umfrage, das Krisenmanagement der Regierung rundheraus ab. Die Allianz von Impfgegnern bis zu Rechtsextremen ist laut und schrill – stabil schon weniger. Bislang haben wir es eher mit einem ästhetisch strapaziösen als demokratiegefährdenden Phänomen zu tun.“