Steht der Libanon am Abgrund?

Nach der Explosion in Beirut protestieren viele Menschen gegen die politischen Eliten des Landes. Dabei wurden bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften mehrere Menschen verletzt. Im Mittelpunkt der Ursachenforschung nach der Katastrophe steht die Lagerung Tausender Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen, dessen Verwaltung als korrupt gilt. Beobachter fürchten eine weitere Destabilisierung des Libanons mit fatalen Folgen.

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Rzeczpospolita (PL) /

Apokalyptischen Konflikt verhindern

Rzeczpospolita warnt vor einer Katastrophe für den gesamten Nahen Osten:

„Im Libanon basiert das Machtsystem auf der Aufteilung des Einflusses zwischen verschiedenen religiösen Gruppen: Der Präsident ist ein Christ, der Premier ein Sunnit, der Sprecher des Parlaments ein Schiit. Es kann schnell zu einem Bürgerkrieg führen, wenn die Verantwortung für die Explosion einer dieser religiösen Gruppen zugeschrieben wird. Darüber hinaus könnte ein bewaffneter Konflikt im strategisch wichtig gelegenen Libanon - zwischen Syrien, das seit Jahren blutet, und Israel, einem Land im Ausnahmezustand - für einen totalen Konflikt im Nahen Osten sorgen, den die ganze Welt fürchtet. Wir dürfen es nicht zulassen, dass es zu einem solch apokalyptischen Konflikt kommt.“

Právo (CZ) /

Neue Flüchtlingswelle nicht ausgeschlossen

Auf mögliche konkrete Folgen für den europäischen Kontinent verweist Právo:

„Auch Europa, obwohl von Corona wie paralysiert, muss das alles, was im Libanon passiert, aufmerksam verfolgen. Das könnte im Extremfall, der freilich nicht ausgeschlossen ist, zum Zusammenbruch des libanesischen Staats führen. Das wiederum könnte den Nahen Osten weiter ernsthaft destabilisieren. Womöglich wird sich eine neue Welle von Flüchtlingen in Bewegung setzen. Wohin die sich aufmachen würde, ist klar. Auch deshalb ist eine breite humanitäre Intervention der Europäischen Union im Libanon unvermeidlich.“

Wedomosti (RU) /

Pulverfässer lagern auch in unseren Städten

Nicht nur im Libanon werden beim Umgang mit Gefahrgut enorme Risiken ignoriert, betont Wedomosti:

„Wenn man an einem russischen Industriegebiet vorbeigeht, kommt einem der Gedanke, dass bei uns die Disziplin bei der Lagerung gefährlicher Güter wohl kaum höher ist als in Beirut. ... Wir leben in einer Industriegesellschaft, die ohne gefährliche Materialien nicht existieren kann. Aber man muss alles dafür tun, dass sie sich nicht in dicht besiedelten Gebieten befinden. Doch leider haben selbstherrliche Chefs und die ihnen untergebenen Pfuscher alle Möglichkeiten, auf gut Glück zu tun und zu lassen, was sie wollen.“

Megaphone (LB) /

Die Rache wird kommen

Die Stimmung in Beirut schwankt nun zwischen Verzweiflung und unermesslicher Wut über die politische Klasse, schreibt der Kommentator des libanesischen Onlineportals Megaphone, Samer Franjieh:

„Wir sind keine libanesischen Bürger, sondern Geiseln, die von einer Handvoll Verbrecher festgehalten werden. Es gibt kein Entrinnen vor ihnen. Allein der Tod bringt Befreiung. … Wir sind nur Zombies, die sich bewegen, gehen und sprechen. Das Leben hat uns verlassen, hat uns Hoffnungen, Ängste, Unruhe und Liebe genommen und sogar den Überlebenswillen. Wir haben keine Zukunft mehr, an die wir uns klammern, oder eine Vergangenheit, an die wir uns erinnern können. … Wir sind nichts, und weil wir nichts zu verlieren haben, werden wir euch töten. Wir werden die Scherben von den Straßen aufsammeln und damit eure Gräber füllen.“

Polityka (PL) /

Lebensader gekappt

Polityka beschreibt die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der Explosion:

„Das Fehlen eines Hafens bedeutet, dass es den Hauptweg für Lebensmittel und Medikamente aus dem Ausland vorübergehend nicht gibt. Die Inlandsproduktion kann nur etwa 20 Prozent der Nachfrage abdecken, der Rest wird importiert. Der Hafen von Beirut war der Ort, an dem die Waren ankamen. Auch wurden die Lager beschädigt, in denen 85 Prozent des libanesischen Getreides aufbewahrt werden. Ein Teil von ihnen ist kontaminiert und niemand weiß, wie groß dieser Teil ist. Der Stadt und dem ganzen Land droht der Hunger.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Alte Rivalitäten gefährden Wiederaufbau

Es gibt leider keinen Grund zur Annahme, dass der Streit der libanesischen Clans jetzt nachlassen wird, bedauert El Periódico de Catalunya:

„Die Zersplitterung lässt vorausahnen, dass die historischen Rivalitäten auch Einfluss nehmen werden, wenn es um die Verteilung der internationalen Hilfen für Beirut geht und um die Durchführung der Wiederaufbaupläne für die Stadt, was in etwa bedeutet, das Land neu aufzubauen. ... Die Schwächung der Institutionen und die fehlende Kontrolle über die politischen Akteure hat parallele Machtstrukturen entstehen lassen und zum Verschwimmen der Verantwortungen geführt. Diese Realität hat Situationen ermöglicht, in denen es nun zu diesem Blutbad kommen konnte. Es gibt keine Garantie dafür, dass dieser zerstörerische Streit zwischen den Clans nun abnehmen wird.“

hvg (HU) /

Eine verheerende Mischung

Bereits vor der Explosion war die libanesische Wirtschaft in einer desolaten Lage, erinnert hvg:

„Es gibt zwar keinen richtigen Zeitpunkt für so eine Katastrophe, laut Analysten wird die Detonation gerade jetzt aber die politische und wirtschaftliche Krise noch weiter verschärfen - in einem Land, das aus dem Bürgerkrieg, der Schiiten, Sunniten, Maroniten und Drusen gegeneinander aufgebracht hat, nie wirklich herausgekommen ist. Die stockenden Abläufe bei den staatlichen Organen und die Auflagen aufgrund der Corona-Pandemie sind erschwerend zur Lage hinzugekommen: die Wirtschaft, die sich schon vor der Pandemie in einer Situation nahe des Konkurs befand, liegt in Trümmern. Die Preise steigen zügig, die Arbeitslosigkeit liegt ungefähr bei 35 Prozent und Hunderttausende verlassen ihre Heimat.“

La Stampa (IT) /

Führungsvakuum in Nahost auflösen

Die USA müssen ihre Entscheidung, die Rolle des "Weltpolizisten" aufzugeben, dringend rückgängig machen - auch, um den Libanon vor weiteren Krisen zu schützen, analysiert der Diplomat Giampiero Massolo in La Stampa:

„Washington hat seine guten Gründe: der Trend zur Energieunabhängigkeit, der den Schutz der traditionellen Ölrouten weniger strategisch erscheinen lässt, die geografische Entfernung, die die dschihadistische Bedrohung und Migrationsströme vermindert, das nachlassende Verständnis der amerikanischen Öffentlichkeit, die verstärkte Aufmerksamkeit für Asien und China. … Es gibt jedoch keine Macht, die die USA ersetzen könnte. Aber auf lokaler Ebene gibt es viele Kandidaten. … Von Russland über die Türkei bis hin zu den Golfstaaten. ... Wenn wir den Mittelmeerraum nicht anderen überlassen wollen, täten wir als EU gut daran, Washington zu drängen, sich wieder mehr zu engagieren.“

Jutarnji list (HR) /

War es wirklich Düngemittel?

Man sollte auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Ammoniumnitrat im explodierten Gebäude für die Sprengstoffherstellung vorgesehen war, meint Jutarnji list:

„Es ist bekannt, dass die Hisbollah sich dank der Landverbindung mit dem Iran mit einem riesigen Raketenarsenal eingedeckt hat, das eine tödliche Gefahr für Israel darstellt. Deshalb sollte man trotz der offiziellen Untersuchungsergebnisse nicht ausschließen, dass ein lokaler Agent die Zerstörungsgefahr im Lagerhaus unterschätzt hat. ... Israel hat sich beeilt, die Verantwortung von sich zu weisen, und das ist gut so. Damit nimmt es der Hisbollah die Argumente für einen casus belli. ... Vielleicht war es wirklich ein Unglück. Aber dann ist dies die Folge von Chaos in einem Staat, der nicht mal mehr in der Lage ist, auf Kunstdünger aufzupassen. In jedem Fall ist es ein schwerer Schlag für die Hisbollah.“

La Stampa (IT) /

Ein Land am Ende

Der Libanon ist nicht nur von der Explosion erschüttert, analysiert La Stampa:

„Je mehr die Nachbarländer in den Sog der Ereignisse gezogen wurden und versuchten das Land mitzuziehen, desto mehr widersetzte es sich. Doch das libanesische Wunder ist eine Täuschung, ein frommer Betrug, dazu bestimmt, in politischer Ohnmacht und wirtschaftlicher Katastrophe unterzugehen. Die Währung hat mittlerweile 60 Prozent ihres Wertes verloren, der Staat hat Konkurs erklärt, ohnmächtig angesichts einer Verschuldung, die 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. … Aber vor allem auf der politischen Ebene muss sich alles ändern, weil alles nur vorgegaukelt ist. Eine politische Klasse ist gescheitert, bestehend aus korrupten Männern, skrupellosen Seiltänzern des Kompromisses, Clanchefs, die den Tarnanzug der Miliz mit dem Anzug des Ministerialbeamten getauscht haben.“

Népszava (HU) /

Libanon hat seine Chance verpasst

Politiker haben sich in der Spaltung des Landes in pro-westliche und anti-westliche Strömungen bequem eingerichtet, statt zukunftsorientiert zu handeln, kritisiert Népszava:

„Die Wahlkampagnen waren nur Formalität, die Stimmen wurden durch die Identität geprägt - jeder hat 'seine' Politiker gewählt, auch wenn diese korrupt waren. Die Politiker haben diese Situation ausgenutzt und haben nicht in die Zukunft investiert, sondern die eigene Tasche, die ihrer Partei oder ihres Freundeskreises gefüllt. Das hat zu einem sterbenden Staat geführt. ... Wenn die früheren Regierungen sich wenigstens ein bisschen Mühe gegeben hätten, hätte sich das Schicksal des Libanon zum Besseren wenden können. Vielleicht hätte es sogar wieder ein prosperierendes Land werden können, die 'Schweiz des Nahen Ostens'. “