Neue politische Kontinuität in Italien?

Italiens Regierungskoalition geht gestärkt aus dem am Montag zu Ende gegangenen Urnengang hervor. Zwar verlor der Partito Democratico (PD) eine Region an die rechte Lega, erlitt aber keine krachende Niederlage, wie spekuliert worden war. Und der vom Koalitionspartner M5S postulierten Verkleinerung des Parlaments stimmten 70 Prozent der Wähler zu. Internationale Stimmen debattieren, ob das Votum eine neue Phase politischer Stabilität einläuten könnte.

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Le Temps (CH) /

Ein gutes Zeichen für Conte und Europa

Mit dem Ja zu einem kleineren Parlament zeigt Italien Reformwillen, freut sich Le Temps:

„Die Italiener haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, ihr Land zu verändern, indem sie die Verringerung der Abgeordnetenzahl von 945 auf 600 akzeptiert haben. Der prekären Stabilität, die aus dem Votum hervorgeht, kommt auch das Verdienst zu, Brüssel vorerst zu beruhigen. Für Giuseppe Conte und die 5-Sterne-Bewegung, die sich diese Reform auf die Fahnen geschrieben hatten, ist es ein willkommener Sieg, auch wenn er die ernsten Probleme, die die Bewegung untergraben, nicht auslöscht. Er wird es dem Premier ermöglichen, nicht zu sehr geschwächt in die parlamentarische Debatte über den Sanierungsplan, den Italien der Europäischen Union vorlegen muss, zu gehen.“

Népszava (HU) /

Immer mehr Bürger durchschauen Salvini

Italiens Wählerschaft setzt auf Kontinuität statt Populismus, freut sich Népszava:

„Salvini hat die politischen Kraftverhältnisse ein weiteres Mal falsch eingeschätzt. Er hat auf eine totale Niederlage der Linken gehofft, die Contes Regierung derart destabilisiert hätte, dass er umso lauter eine vorgezogene Parlamentswahl hätte fordern können. Nach dem ausgewogenen Wahlergebnis kann aber Conte aufatmen. Es wäre sowieso merkwürdig gewesen, wenn Conte gerade jetzt gestürzt worden wäre, da seine Landsleute mit seiner Krisenverwaltung durchaus zufrieden sind. Diese Wahl hat gezeigt, dass immer mehr Wähler Salvini durchschauen. Es ist nicht mehr der populistische Führer, der die größte Gefahr für Conte ist, sondern, ein bisschen absurderweise, seine eigene Koalition.“

tagesschau.de (DE) /

Allenfalls eine Verschnaufpause

Es gibt keinen Anlass, sich entspannt zurückzulehnen, meint die Rom-Korrespondentin der ARD, Elisabeth Pongratz, auf tagesschau.de:

„Die Ergebnisse zeigen, dass viele Italiener in den Regionen unzufrieden sind. Die Regierungskoalition in Rom muss nun zeigen, dass sie die Probleme der Menschen wirklich ernst nimmt und zur Umsetzung von Reformen bereit ist. Angekündigt hat sie bereits viel. Die Zeit drängt, nach der Corona-Krise haben viele Menschen keine Arbeit mehr, hinzu kommen langjährige Probleme wie die Überschuldung des Staates. Die Wähler in den Regionen haben den Regierenden in Rom eine Verschnaufpause gegönnt, sie kann unbeschadet weiterregieren. Doch unter der Oberfläche brodelt es, die Verschnaufpause muss nun gut genutzt werden. Damit es nicht wirklich zu einem schlimmen Erdbeben kommt.“

Corriere della Sera (IT) /

Vom Sündenbock zum Wahlgewinner

Der Partito Democratico (PD) und ihr Vorsitzender Nicola Zingaretti sind die klaren Sieger, resümiert Corriere della Sera:

„Der einsame Gewinner der Regionalwahlen ist der Politiker, der noch 24 Stunden vorher als Sündenbock für eine fast sichere Niederlage hingestellt wurde. Als Opferlamm, das von der Opposition ins Visier genommen und innerhalb der Regierungskoalition angefochten wurde. ... Er verlor eine Region, die Marken, behielt aber die Toskana, Apulien und Kampanien. Und das ist politisch und psychologisch genug - und sogar mehr als genug -, um von einem Erfolg zu sprechen: umso mehr bei einer Beteiligung, die die Erwartungen und Befürchtungen wegen Covid übertrifft.“

Corriere del Ticino (CH) /

Differenzen nicht schönreden

Dass das Ergebnis von PD und M5S weniger enttäuschend ausfiel als erwartet, sollte nicht über die Schwächen der Regierungskoalition hinwegtäuschen, entgegnet Corriere del Ticino:

„Der ehemalige Chef der Cinque Stelle, Luigi Di Maio, sprach gestern in triumphalsten Tönen vom Erfolg des Ja im Referendum. ... Doch auf lokaler Ebene, bei den Regionalwahlen, verlor die Bewegung weiter an Zustimmung. Ganz zu schweigen von den ernsten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bewegung bezüglich regionaler Wahlbündnisse mit dem Partito Democratico. … Auch PD-Generalsekretär Nicola Zingaretti zog es vor, die Probleme der Regierungskoalition zu ignorieren: die Differenzen nicht nur mit dem Partner Cinque Stelle, sondern auch innerhalb der eigenen Partei. Das Ja zur Streichung eines Drittels der Parlamentarier hatte zum Beispiel keineswegs die Unterstützung des gesamten PD.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Es ändert sich nichts Wesentliches

Was die Italiener auch weiterhin an ihrem Parlament stören wird, fasst die Neue Zürcher Zeitung zusammen:

„[Z]u gross und zu teuer! ... [Die] Volksvertretung sei nicht repräsentativ, denn die Parteizentralen und nicht die Wähler entschieden über die Zusammensetzung der Listen. Und schliesslich wird die Parlamentsarbeit ... als Abfolge von undurchsichtigen Hinterzimmerdeals wahrgenommen. An alldem wird sich durch den fulminanten Volksentscheid nichts Wesentliches ändern. Die Einsparungen sind geringfügig ..., das Wahlsystem ist immer noch dasselbe, und der politische Betrieb besteht naturgemäss über weite Strecken aus Kuhhandeln. ... Vor allem aber bleibt das Zweikammersystem erhalten, das öfter zu Umwegen und Blockaden im Gesetzgebungsprozess führt, obwohl die beiden Kammern weitgehend gleich gewählt werden und sich somit in ihrer Zusammensetzung nur geringfügig unterscheiden.“

La Stampa (IT) /

Alles andere als gleichgültig

So politikverdrossen sind die Italiener also doch nicht, freut sich La Stampa angesichts der Wahlbeteiligung:

„Es geht der italienischen Demokratie besser, als wir dachten, wenn trotz Covid bis Sonntag um 23 Uhr 40 Prozent der Wähler an den Urnen erschienen sind, um ihr Wahlrecht beim Referendum auszuüben, und zwar nicht nur in den sieben Regionen, in denen auch die regionale Verwaltung erneuert wird, sondern auch in den anderen. … Kaum jemand hat damit gerechnet. Nicht nur wegen der weit verbreiteten Angst vor der Epidemie angesichts stetig steigender, alarmierender Ansteckungszahlen in der letzten Woche des Wahlkampfes, sondern auch wegen des weit verbreiteten Eindrucks eines abnehmenden Interesses der Italiener, am politischen Geschehen teilzunehmen. Das ist nicht der Fall, oder zumindest nicht im von uns befürchteten Ausmaß.“

La Repubblica (IT) /

Das Ende der Antipolitik

Auch inhaltlich zeichnet sich eine Zeitenwende ab, freut sich La Repubblica:

„Die lange Saison der Antipolitik geht auf ihr Ende zu. Das Referendum über die Reduzierung der Parlamentssitze ist gleichzeitig der Höhepunkt der Antipolitik als auch ihr Wendepunkt. Dies zeigt sich an dem entideologisierten und zahmen Ansatz, mit dem die Cinque Stelle das Thema nun angegangen sind. Sie haben die riesige Pappschere diesmal im Gruselkabinett gelassen, mit der sie noch vor Monaten vor dem Regierungsgebäude aufwarteten, in einer Kampagne, die an Antiparlamentarismus grenzte und Parlament und Senat ihre repräsentative Funktion absprach, indem die Sitze schlichtweg zu überflüssigen Kostenpunkten deklassiert wurden.“