Brexit: Kommt kurz vor zwölf der Durchbruch?

Nach dem Gipfeltreffen in Brüssel hat der britische Premier Johnson am Freitag erneut mit einem harten Brexit gedroht. Weitere Gespräche seien sinnlos, sollte die EU ihre Position nicht grundsätzlich ändern. Indes trifft EU-Chefunterhändler Barnier am heutigen Montag in London erneut mit dem britischen Verhandlungsführer Frost zusammen. Journalisten glauben an eine Einigung in letzter Minute.

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tagesschau.de (DE) /

Spielraum für Kompromiss ist da

Auch die EU muss sich nun bewegen, fordert tagesschau.de:

„Die Haltung der EU-Nordseeanrainerstaaten, ab dem 1. Januar keine Abstriche bei den Fischfangquoten in britischen Hoheitsgewässern zu machen, ist ähnlich borniert wie die Forderung Londons, das EU-Territorium namens Binnenmarkt nach britischem Belieben betreten zu dürfen. Es gibt also durchaus noch Verhandlungsspielraum auf beiden Seiten. Und da die EU-Kommission bereits einen mehrere hundert Seiten langen Vertragstext ausgetüftelt hat, gibt es auch eine substantielle Verhandlungsgrundlage. Auf deren Basis lässt sich bei gutem Willen beider Seiten im November ein Kompromiss schmieden.“

The Irish Times (IE) /

Deal ist das wahrscheinlichste Ergebnis

The Irish Times zeigt sich ebenfalls optimistisch, dass es am Ende ein Abkommen geben wird:

„Das Londoner Verhandlungsteam mit David Frost an der Spitze ist unerfahren und neigt zu schwerwiegenden Fehlurteilen. Das zeigte sich beim neuen britischen Binnenmarktgesetz, das einen Bruch mit dem Austrittsabkommen mit der EU darstellt. Auf der EU-Seite steht Michel Barnier vor der großen Herausforderung, die Notwendigkeit eines Kompromisses in Einklang zu bringen mit der Entschlossenheit der Staats- und Regierungschefs, Großbritannien keinen unfairen Wettbewerbsvorteil zuzugestehen. Doch abgesehen von der Rhetorik und den opernhaften Inszenierungen der Londoner Regierung sind sich beide Seiten in der Substanz näher als je zuvor und bleibt ein Deal das wahrscheinlichste Ergebnis.“

Mediafax (RO) /

No-Deal-Taktik gilt mindestens bis zur US-Wahl

Dass London in den Gesprächen mit der EU Zeit schindet, weil es parallel auch mit den USA über ein Handelsabkommen verhandelt, hält das Nachrichtenportal Mediafax für möglich:

„Eine Allianz zwischen den USA und Großbritannien wäre problematisch für die EU. … Wenn Donald Trump die Wahlen im November gewinnt, wird Boris Johnson einen starken Alliierten haben, und Europa wird fast überall große Probleme bekommen. Werden die Wahlen aber von Joe Biden gewonnen, wird Amerika einen Normalisierungsprozess mit Europa starten, während England gezwungen sein wird, viele Forderungen der EU zu akzeptieren. ... Bis dahin aber: No Deal!“

Die Presse (AT) /

Schmerzhafte Lehre für die Briten

Erneut zeichnet sich eine unbefriedigende Lösung zur Regelung der Nachbarschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ab, beobachtet Die Presse:

„Der Brexit wird entweder hart oder knüppelhart, Briten und Europäer haben die Wahl der Qual zwischen einem bis auf das Skelett heruntergehungerten Handelspakt oder einem (hoffentlich nur vorläufigen) vollständigen Abbruch aller geordneten Beziehungen zu Jahresende. ... Dass es so weit gekommen ist, hat nichts mit Unausweichlichkeiten des Schicksals zu tun - und alles mit der negativen Energie der Jakobiner in Westminster. Ihr Brexit ist ein alles verschlingendes schwarzes Loch. ... Die Briten werden am Neujahrstag zum ersten Mal erleben, was Drittstaatsangehörigkeit in der Praxis bedeutet. Das wird leider eine schmerzhafte Lehre.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Johnson verliert so oder so

Die Verhandlungsposition des britischen Premiers verschlechtert sich zunehmend, meint die Neue Zürcher Zeitung:

„Boris Johnson ... sieht sich mit widersprüchlichen Pressionen konfrontiert: Eine Einigung müsste er auch den Hardlinern seiner Partei verkaufen können, zu der sich sein Verhältnis verschlechtert hat. ... Nach dem Abschluss eines Abkommens würde es für ihn schwieriger werden, den Schwarzen Peter der EU zuzuschieben, falls der Brexit doch spürbare wirtschaftliche Einbussen bringt. Ein No-Deal würde hingegen wohl bedeuten, dass 2021 zur Schadensbegrenzung eben doch wieder neue Verhandlungen mit der EU aufgenommen werden müssten. Die Brexit-Leidenszeit ginge weiter - und Freihandelsverträge zum Beispiel mit den USA rückten in weite Ferne. Das sind alles keine erbaulichen Perspektiven für den bedrängten Premierminister.“

The Spectator (GB) /

Schottische Separatisten wittern Morgenluft

Laut einer aktuellen Umfrage sind mehr Schotten denn je für die Unabhängigkeit. Das liegt vor allem daran, dass London einen harten Brexit vorantreibt, den die Schotten mehrheitlich abgelehnt hatten, schreibt The Spectator:

„Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass der Brexit der einzige Grund ist, warum der erneute Ruf nach Unabhängigkeit derzeit Substanz hat. Ohne Brexit gäbe es keine wesentliche Änderung der Umstände, die eine erneute Prüfung dieser Frage rechtfertigen könnte. Das letzte Unabhängigkeitsreferendum liegt ja nur sechs Jahre zurück. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon und ihre Scottish National Party (SNP) würden sich weiterhin für die Unabhängigkeit einsetzen, aber sie hätten kein gutes Argument dafür, ein erneutes Referendum zu fordern. Wie auch immer man zu ihrem Ansinnen stehen mag: Sie haben nun eine gute Begründung für ihr Drängen.“

Les Echos (FR) /

Brutaler Bruch würde Krise noch verschlimmern

Ein No-Deal-Szenario muss unbedingt verhindert werden, drängen die Vorsitzenden der Arbeitgeberverbände von Frankreich, Deutschland und Italien in einem Appell in Les Echos:

„Unsere Unternehmen wenden all ihre Energie auf, um die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zu begrenzen. ... Sie engagieren sich, um unsere Volkswirtschaften wieder anzukurbeln und dabei auch die unumgänglichen Herausforderungen in Sachen Umweltschutz und Digitalisierung zu meistern. Ein brutaler Bruch zwischen EU und Großbritannien würde die Lage weiter verschlimmern und das Aus für zehntausende Jobs und Firmen in unseren Ländern bedeuten. … Wir appellieren feierlich an die Verhandlungsführer, alles ihnen Mögliche zu tun, um im gemeinsamen Interesse Europas und Großbritanniens ein umfassendes und ehrgeiziges Abkommen zu vereinbaren, das am 1. Januar in Kraft treten kann.“

Helsingin Sanomat (FI) /

Bald kommt für die Briten das böse Erwachen

So etwas wie ein Wunschdenken vieler Briten beschreibt Helsingin Sanomat:

„Zwar glaubt ein großer Teil der Briten, die Post-Brexit-Zeit habe schon begonnen, doch das ist nicht der Fall. Wir befinden uns in der elfmonatigen Übergangsphase - die jedoch bald endet. Die EU hofft, dass sie vorher noch ein neues Partnerschaftsabkommen mit Großbritannien abschließen kann. … Für viele Unternehmen wäre ein Brexit ohne Abkommen sehr problematisch. ... Für die britische Wirtschaft ist der Austritt eine Katastrophe, mit und ohne Deal. Denn kein Abkommen kann irgendetwas liefern, was mit einem Verbleiben im EU-Binnenmarkt vergleichbar wäre. Dies ist gerade die beste Zeit des Brexit. Die Briten haben ihren Austritt bekommen - aber noch nicht die Folgen.“