Erdoğan gegen Macron: Wer profitiert?

Der türkische Präsident hat europäischen Politikern Islamhass vorgeworfen und sie als "Kettenglieder der Nazis" bezeichnet. Es gebe eine "Lynchkampagne" gegen Muslime, vergleichbar mit der Judenverfolgung vor dem Zweiten Weltkrieg. Zuvor war Erdoğan Emmanuel Macron scharf angegangen, als dieser nach der Tötung von Samuel Paty von einer Krise des Islam sprach. Beobachter fragen nach Motiven, Opfern und Profiteuren in diesem Streit.

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Népszava (HU) /

Populisten unter sich

Erdoğan wie Macron haben ein Interesse, den Konflikt künstlich aufzubauschen, klagt Népszava:

„Es ist besser [für Erdoğan und andere], das Volk gegen Macron aufzubringen, damit es sich nicht gegen die eigenen politischen Führer wendet. Macron bereitet das keine Kopfschmerzen - er kann sich als Verteidiger des Säkularismus darstellen. ... Dennoch hat dieser künstliche Streit auch Opfer: die französischen Muslime, die sich integriert haben oder dies wünschen. Die Aussagen Macrons können für sie einen Verlust an sozialem Ansehen mit sich bringen. Viel mehr schadeten ihnen aber Erdoğan und andere, die Europas Rechtsextremen wieder Munition in die Hand gegeben haben, obwohl es nicht um das Aufeinanderprallen der christlichen und der islamischen Welt geht. ... In der Realität kollidieren Populisten miteinander, die Konflikte anheizen, um daraus politisches Kapital zu schlagen.“

Kurier (AT) /

Ausgerechnet er greift zur Religionskeule

Der türkische Präsident sollte vor der eigenen Türe kehren, ätzt der Kurier:

„Natürlich nützt Erdoğan das West-Bashing an der nationalistischen Heimatfront. Dass er es – zum wiederholten Male – mit der Religionskeule tut, ist langsam unerträglich. Ausgerechnet jener Mann, der den Genozid an Hunderttausenden christlichen Armeniern weiterhin leugnet, der die Hagia Sophia, eine frühere Kirche, von einem Museum in eine Moschee umwandelte und der für die letzten Christen in der Türkei unzählige Schikanen bereithält. In Frankreich dagegen kann jeder Muslim seinen Glauben frei gestalten. Dass zugleich gegen Islamisten vorgegangen wird, ist wohl selbstverständlich.“

Gordonua.com (UA) /

Wo bleibt Kritik an China?

Frankreich Islamhass vorzuwerfen, aber zur Unterdrückung muslimischer Minderheiten in China zu schweigen, zeugt für Gordonua.com von Doppelmoral:

„Erdoğan, Kadyrow, viele weitere Politiker und 'spirituelle Führer' kritisieren und beschimpfen Macron heftig. Immer mehr wird in der islamischen Welt ein Boykott Frankreichs gefordert. Xi Jinping zerstört seit Jahren den Islam in Xinjiang. Tausende Muslime werden wegen ihres Glaubens in Konzentrationslager gesperrt, wo sie gedemütigt und geschlagen werden. Aber auch die, die frei sind, werden in einer Weise überwacht, wie wir dies bei Orwell gelesen haben. Gegen die Politik von Xi gibt es aber keine Massenproteste in der muslimischen Welt. Er wird nicht von Staatsoberhäuptern verflucht, seine Porträts werden nicht auf den Straßen verbrannt.“

Avvenire (IT) /

Blinde Flecken auf beiden Seiten

Avvenire warnt vor Schwarz-Weiß-Malerei:

„Es gibt zwei Facetten: den islamischen Nihilismus, der die Messlatte für Grausamkeiten in der Welt höher gelegt hat, und antimuslimischen Rassismus. ... Wer die Zügel einer perspektivlosen und orientierungslosen Welt in der Hand hält, kann nicht eine dieser Facetten betrachten und die andere ignorieren, so wie es islamistische Nihilisten tun. Ebenso wenig kann antimuslimischer Rassismus, der auf einer langen Geschichte von Eroberung und Kolonialismus beruht, als Grundlage gegen den islamischen Nihilismus verwendet werden. … Es ist noch nicht zu spät für ein sorgfältigeres und klareres Nachdenken, um die islamische Frage und die Krise des Islam als eines der Gesichter einer globalen Krise darzustellen, die sich nur verschlimmern kann, wenn sie nicht angegangen wird.“

Corriere della Sera (IT) /

Wer nichts weiß, glaubt vieles

Erdoğan hofft wohl, dass seine muslimischen Zuhörer diesen Vergleich für plausibel halten - was viele auch tun, klagt Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:

„Wie ist es möglich, dass die öffentliche Meinung in islamischen Ländern wirklich davon ausgeht, dass es heute in Europa eine Art Kristallnacht gegen Millionen Muslime gibt, dass Millionen Muslime durch etwas Ähnliches wie die Nürnberger Gesetze diskriminiert werden und vielleicht kurz davor stehen, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden? … Es ist möglich, weil die öffentliche Meinung in islamischen Ländern oder zumindest die große Mehrheit davon in Wirklichkeit nichts oder fast nichts von dem weiß, was im letzten Jahrhundert in Europa wirklich geschehen ist. Vor allem weiss sie nichts über die Shoah.“

Milliyet (TR) /

Europäer brauchen immer ihre Sündenböcke

Der aktuelle Schlagabtausch erfolgt nicht im luftleeren Raum, kommentiert Milliyet:

„In der Geschichte Europas sind Feindbilder Tradition. Zuerst waren Jahrhunderte lang die Juden das Ziel. Wie könnte man die Inquisitionsgerichte vergessen? Danach folgten Nazideutschland und das faschistische Italien. ... Und jetzt ist sich Europa selbst feindlich gesinnt, oder zumindest hat es die Muslime in seinen eigenen Ländern zu ungewollten Migranten auserkoren. Das gilt nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland greift die radikale Rechte die Muslime an, sobald sie wieder erstarkt. ... In Österreich ist die Lage offensichtlich. In Anbetracht dessen gibt es für den Konflikt - auch wenn es vordergründig um bestimmte Worte von Präsident Erdoğan und harte Aussagen von Macron geht - tief verwurzelte soziologische, politische und religiöse Gründe.“

Karar (TR) /

Lieber ein gutes Beispiel geben

Die Türkei sollte sich nicht auf den Streit einlassen, erklärt Karar:

„Die richtige Haltung wäre vielmehr, als gutes Beispiel voranzugehen und Lösungen für die Probleme anzubieten. Die [Religionsbehörde] Diyanet hat ihren ehemals guten Ruf verloren, aber wir haben sehr angesehene Gelehrte der Theologie, Soziologie und Politikwissenschaften. Wir müssen die Islamophobie erforschen. ... Und wir müssen die Neigung islamischer Gesellschaften zu Gewalt und Fanatismus und zum Salafismus erforschen. ... Die Türkei muss sich durch Vorlage wissenschaftlicher Recherchen und eine darauf gestützte Vision eines partnerschaftlichen oder gemeinsamen Lebens präsentieren. ... Dazu gehört auch der Dialog mit den vielen Kreisen und Einrichtungen im Westen, die nicht islamophob sind und sogar erkennen, dass Islamophobie eine totalitäre Geisteshaltung ist - und deshalb für Demokratie einstehen.“

Les Echos (FR) /

Achillesferse der Türkei treffen

Les Echos schlägt vor, Erdoğans islam-nationalistischem Projekt den finanziellen Boden zu entziehen:

„Die Türkei Erdoğans ist ein militärischer Koloss mit tönernen Füßen oder vielmehr mit einer Achillesferse: ihrer Wirtschaft, die gerade mal einem Drittel des BIP Frankreichs entspricht. Die muss man treffen, bevor es zu spät ist. Der wahrscheinliche und erhoffte Sieg Joe Bidens bei den US-Präsidentschaftswahlen wird dabei helfen: Anders als Donald Trump, der zahlreiche private Interessen in der Türkei hat (die Trump Towers in Istanbul), ist Biden kein Gegner der Europäischen Union und hat er die Türkei im Visier, insbesondere seitdem Ankara beschlossen hat, russische S-400-Abwehrraketen zu kaufen. ... Den Schlüssel zum Fortbestand von Erdoğans Regime hält jedoch die Wirtschaft in Händen, vor allem die globalen Finanzinstitutionen und die westlichen Firmen.“

Ria Nowosti (RU) /

Der Schutzherr der Moslems rüstet für den Krieg

Macrons Ankündigung, mit mehr Härte gegen Islamisten vorzugehen, lassen für Ria Nowosti eine neue Konfliktlinie durchscheinen:

„Man kann über die Sinnhaftigkeit und Effektivität der gewählten Taktik streiten, aber für gegenwärtige westliche Verhältnisse handelt es sich um scharfe Methoden. Auf der Gegenseite präsentiert sich Erdoğan auf internationaler Ebene immer lauter als Verteidiger und Schutzherr aller Moslems des Planeten. Er interpretiert das aktuelle Vorgehen Europas als Krieg gegen den Islam als solchen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Erdoğan gibt sich gern als Opfer

Reines Kalkül vermutet die Frankfurter Allgemeine Zeitung hinter dem Schimpfen des türkischen Präsidenten:

„Erdoğan bedient allzu gern den Opfer-Topos und wirft Europa Rassismus gegen Muslime vor. Kein Wort zu den Verbrechen, die im Namen des Islams begangen werden, ... von selbsternannten 'Gotteskriegern'. Die aber sind keine Leute, die nur besonders gläubig sind und womöglich mit der säkularen Welt nicht zurechtkommen, sondern Killer, mit nicht selten krimineller Vergangenheit, die ihre Taten religiös verbrämen. ... Macron hat recht, wenn er dazu aufruft, den Feinden der freien Gesellschaft entgegenzutreten. Der autoritär-islamische Erdoğan sieht in der freiheitlichen Selbstbehauptung, natürlich, einen antimuslimischen Kulturkampf. Es erfüllt einen politischen Zweck, wenn er darüber schwadroniert.“

Naftemporiki (GR) /

Muslime wähnen sich unter christlicher Besatzung

Naftemporiki greift gängige Argumente von Islamophoben und Rechtsextremen auf und argumentiert mit nicht belegten Zahlen:

„Im 21. Jahrhundert leben in Europa, einschließlich Russland und der europäischen Türkei, mehr als 70 Millionen Muslime. Davon leben rund 18 Millionen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. ... Das erste, was Neugeborene lernen, ist, dass sie 'unter christlicher Besatzung' leben. … In Frankreich und Belgien hat diese Art von 'Katechismus' unglaubliche Ausmaße angenommen, was sich an der Zahl der jungen Menschen zeigt, die in den letzten fünf Jahren nach Syrien und anderswohin gereist sind, um gemeinsam mit anderen Söldnern des islamischen Staates gegen die 'Ungläubigen' zu kämpfen.“

El País (ES) /

EU darf das nicht durchgehen lassen

Brüssel sollte der Türkei klare Grenzen aufzeigen, rät El País:

„Die Auseinandersetzung ist nicht nur bilateral. Zusätzlich zur Frage im Mittelmeer setzt Erdoğan auf eine aggressive Außenpolitik, die in vielerlei Hinsicht zu Konflikten führt. ... Die islamisch-nationalistische Dialektik, die ihn dazu gebracht hat, Macrons Gesetzgebung gegen die dschihadistische Ideologie in Frankreich scharf zu kritisieren und in eine ihm nicht zustehende Rolle des Glaubensschützers zu schlüpfen, reiht sich in eine lange Liste problematischer Punkte ein. Die EU sollte sich gegenüber diesen inakzeptablen Haltungen von ihrer strengen Seite zeigen.“