Von der Leyens Europa-Pläne: Ohne Wille kein Weg?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zum zweiten Mal die jährliche Rede zur Lage der Union gehalten. Sie stimmte die Bevölkerung auf eine neue Ära verstärkter internationaler Konkurrenz ein und warb unter anderem für die Europäische Verteidigungsunion. Für einige Beobachter strotzt die Rede vor Aufbruchstimmung. Andere bedauern, dass der EU-Kommission am Ende immer die Hände gebunden sind.

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Rzeczpospolita (PL) /

Eine Sternstunde für die Chefin

Rzeczpospolita sieht von der Leyens Rede als langersehnten Erfolgsmoment:

„Die EU-Exekutive und insbesondere ihre Chefin sind seit Januar der heftigen Kritik ausgesetzt, die EU falle gegenüber Großbritannien und den USA zurück. Mit der Zeit hat sich aber gezeigt, dass die Strategie, die von der Leyen eingeschlagen hat, richtig war. Jetzt ist nicht nur die Impfrate höher als in den USA, sondern die EU hat auch ebenso viele Impfdosen an Drittländer verkauft oder abgegeben und damit ihr Engagement für eine offene Wirtschaft bekräftigt. Anders als die USA. Kein Wunder also, dass die Rede am Mittwoch für die deutsche Kommisionspräsidentin eine Sternstunde war.“

Der Standard (AT) /

Die neue Anchorwoman im Krisen-Europa

Politische Stärke spricht für den Standard aus der Rede:

„Von der Leyen ist ab sofort und zu Recht die Anchorwoman in einem Europa, das tief in der Krise steckt - nach Angela Merkels Abgang umso mehr. Regierungen verstricken sich zunehmend in nationalen Egoismen. Sie gibt dem Gemeinsamen Halt, nicht nur mit Programmen, gigantischen Investments in Wiederaufbau, Klimaschutz und Wachstum. Das wirklich Neue ist die Empathie, mit der sie die Bürger direkt anspricht. So positiv, so optimistisch, fast liebevoll hat noch kein Kommissionschef etwa die Jugend des Kontinents ermuntert: Sie glaube an diese 'gut ausgebildete, talentierte Generation', die sich redlich um die Zukunft der Welt sorge.“

De Volkskrant (NL) /

Es liegt nicht an den Kapazitäten

Hehre Ziele können nicht über Europas Schwäche hinwegtäuschen, findet De Volkskrant:

„Europäische Führer sprechen gerne große Worte. Weniger deutlich ist meistens, wie sie ihre hoch gesteckten Ziele erreichen wollen. Auch Von der Leyens State of the Union enttäuschte in dieser Hinsicht. ... Von der Leyen sagt selbst, dass Europas militärische und diplomatische Schwäche nicht durch einen Mangel an Kapazität kommt, sondern durch einen Mangel an politischem Willen der Mitgliedsstaaten. Eine europäische Armee kann nicht in Brüssel gegründet werden. Wenn es jemals dazu kommt, dann werden es die geopolitischen Entwicklungen sein, die das erzwingen. Dann muss Europa aber bereit sein. In dieser Hinsicht hat von der Leyen Recht. “

Helsingin Sanomat (FI) /

Die Gefahr ist da, der politische Wille nicht

Auch für Helsingin Sanomat ist der fehlende politische Wille der wunde Punkt:

„Die gemeinsame Verteidigung nahm in der Rede viel Raum ein, auch wenn die Debatte um eine EU-Verteidigungsunion nicht neu ist. Schon während Barack Obamas Amtszeit wurde Europas Staatsführern bewusst, dass sich die USA künftig stärker nach Asien orientieren werden. … Allen Mitgliedsländern ist klar, dass die EU ihre Kräfte im Kampf gegen Cyber-Angriffe und hybride Bedrohungen bündeln muss. Auch die Rüstungsindustrie soll gestärkt werden. Die Frage ist jedoch, ob es für gemeinsame militärische Operationen und Truppen einen politischen Willen gibt.“

L'Opinion (FR) /

Trotz allem: Es geht voran

L'Opinion wiederum ist schließlich trotz begrenzter Handlungsmöglichkeiten für die EU-Kommission optimistisch:

„Vorrang für den Kampf gegen die Erderwärmung mit dem Green Deal, Erfolge beim Impfen und der gemeinschaftlichen Verschuldung für den Wiederaufbau - die Bilanz des vergangenen Jahres kann sich sehen lassen. Gewiss stecken Themen wie der Flüchtlingspakt fest und andere, wie die Verteidigung oder die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, werden kaum angetastet. Doch allmählich erleben wir das Entstehen eines europäischen politischen Raums. ... Ursula von der Leyen kann sich in Brüssel noch nicht so ganz durchsetzen. Denn die echte Macht ist nun mal eher zwischenstaatlich bei den Mitgliedsstaaten im EU-Rat angesiedelt als gemeinschaftlich unter dem Dach der Kommission. Ist das schlimm? Nicht unbedingt, so lange es funktioniert.“