Deutschland: Wie weiter nach der Wahl?

Nach der Bundestagswahl hat sich SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz für eine Ampel-Koalition mit den Grünen und der FDP ausgesprochen. Doch CDU-Chef Laschet hat noch nicht aufgegeben und wirbt trotz wachsender Kritik auch aus den eigenen Reihen für eine Regierung mit seiner Union an der Spitze. Die Lage ist kompliziert, zeigen die Analysen.

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Der Standard (AT) /

Schlingerkurs kostet Vertrauen

Die Union muss Klarheit über die Zukunft ihres Kanzlerkandidaten Armin Laschet schaffen, schreibt Der Standard:

„Entweder sie schickt Laschet jetzt sofort in die Wüste, weil es mit ihm nicht mehr geht. Der Schritt wäre legitim. Oder sie billigt ihm noch diesen einen letzten Versuch zu, ein schwarz-grün-gelbes Bündnis zu schmieden. Der aktuelle Mittelweg - Laschet zu bashen, ihn aber gleichzeitig weitermachen zu lassen - trägt nur dazu bei, dass die gesamte Partei noch mehr Schaden nimmt.“

De Standaard (BE) /

Laschet spielt auf Zeit

Was wie ein Mangel an Taktik aussieht, könnte am Ende sogar funktionieren, analysiert hingegen De Standaard:

„Ein Trick, um mit politischen Problemen umzugehen, ist, sie zu ignorieren und zu warten, bis es ruhiger wird. ­Armin Laschet, der Chef der Christdemokraten, kann das sehr gut. ... Sollte eine rot-gelb-grüne Koalition nicht gelingen, dann wartet er mit offenen Armen auf die Grünen und Liberalen. Wenn die Union dann plötzlich doch die Regierung führen wird, kann Laschet seinen frustrierten Parteikollegen Ministerämter anbieten. ... Auch die Hähne in seiner Partei, die Fraktionsvorsitzende werden wollen, müssen warten. ... Zusätzlich zur Kritik am Kanzlerkandidaten kann die Union nicht auch noch einen internen Machtkampf um den Fraktionsvorsitz gebrauchen.“

Deník (CZ) /

AfD chancenlos - das wäre in Tschechien anders

Mathematisch hätten CDU/CSU, FDP und AfD eine Mehrheit, doch ein Zusammengehen mit Rechtsaußen kommt in Deutschland nicht in Frage, atmet Deník auf:

„Fast verwunderlich, dass niemand in Deutschland diese rechnerisch mögliche Variante erwähnt. Und das, obwohl sie Laschet ins Kanzleramt brächte. Aber wir sind in Deutschland, und hier verhandelt oder regiert man einfach nicht mit Rechtsextremen wie denen der AfD. ... In Tschechien hingegen setzt der in wenigen Tagen zu erwartende Wahlsieger Andrej Babiš ganz offen auf das tschechische Pendant zur AfD, also die Partei von Tomio Okamura. Und selbst Präsident Miloš Zeman hätte mit solch einem für die Zukunft des Landes absolut furchtbaren Kabinett kein Problem.“

Dnevnik (SI) /

Die Großen müssen sich bewegen

Dass sowohl Scholz als auch Laschet noch Chancen auf die Kanzlerschaft haben, könnte Dynamik in die Verhandlungen bringen, meint Dnevnik:

„Weder die drittplatzierten Grünen noch die viertplatzierten Liberalen schließen derzeit irgendetwas aus. Dies verspricht einen spannenden Politpoker nach der Wahl und recht großzügige Angebote von Scholz und Laschet. FDP-Chef Christian Lindner kann völlig entspannt in diesen Koalitionspoker einsteigen. ... Deutlich weniger entspannt können die Grünen sein, die ein süß-saures Ergebnis eingefahren haben. Noch im Mai hatten sie selbst das Kanzleramt im Auge.“

Corriere della Sera (IT) /

Weiter in der Mitte

Für die Sozialdemokraten hätte es auch ganz anders kommen können, staunt Corriere della Sera:

„Die SPD ist wieder zur führenden deutschen Partei geworden, und zwar nicht auf einer linksradikalen Linie à la Jeremy Corbyn oder Jean-Luc Mélenchon, sondern auf einer zentristischen Linie, die das Erbe von Angela Merkel beansprucht. … Dies war keine ausgemachte Sache. ... Die Sozialdemokraten schienen dazu bestimmt, das Schicksal der griechischen Pasok zu teilen, die von den Populisten der Syriza verdrängt wurde, oder das der französischen PS, die der Zentrist Emmanuel Macron ins Abseits laufen ließ. Stattdessen steht eine Partei, die trotz ihrer ruhmreichen Geschichte am Ende schien, nun wieder an der Schwelle zum Kanzleramt. Auch, weil die Menschen nach der Corona-Krise wieder nach Ordnung verlangen.“

Badische Zeitung (DE) /

Alte Verkrustungen lösen

Für die Koalitionsverhandlungen empfiehlt die Badische Zeitung den Parteien einen Blick in die Nachbarländer:

„Lernen könnte man etwa von Österreich, wo der konservative Kanzler Sebastian Kurz mit den ideologisch weit entfernten Grünen ein Auskommen fand, indem man sich gegenseitig ganze Politikfelder und damit unverwässerte Erfolge überließ. In den Niederlanden wiederum bilden sich immer wieder pragmatische Vielparteienbündnisse mit erstaunlichem Reformpotenzial, auch wenn das aktuell besonders lange dauert. Die neue deutsche Unübersichtlichkeit mag abschrecken. In ihr steckt aber auch die Chance, Verkrustungen zu lösen, Gräben zu überwinden. Gut gemacht, vereinen die Ampel oder Jamaika die besten Ideen von drei Parteien.“

Eesti Päevaleht (EE) /

Deutschland wird grüner

Eesti Päevaleht wertet das Abschneiden der Grünen als Erfolg:

„Die Grünen waren bisher nur mit Gerhard Schröders Sozialdemokraten zwischen 1998 und 2005 an der Regierung beteiligt. ... Nun haben sie sechs Stimmenprozente dazugewonnen und den dritten Platz erreicht. Die Politik Deutschlands, das für die grüne Politik Europas richtungsweisend ist, wird noch grüner. Die Grüne Wende wird fortgesetzt. In Estland ist es zurzeit populär, sich populistisch gegen die grüne Wende zu äußern - sie sei zu teuer und nicht zu schaffen. Nach dem Wahlergebnis in der stärksten Wirtschaftsnation Europas wirkt das, als würde man gegen den Wind spucken. Die grüne Wende kommt.“

De Volkskrant (NL) /

Koalitionäre werden sich neutralisieren

De Volkskrant glaubt nicht, dass nun der große politische Aufbruch möglich ist:

„Mit den Grünen haben [die Sozialdemokraten] einen natürlichen Regierungspartner, aber es ist zu befürchten, dass die liberale FDP in einer Drei-Parteien-Koalition ständig auf die Bremse treten würde. In einer Koalition von CDU, Grünen und FDP wiederum werden die Grünen verhindern wollen, dass die Politik zu rechts wird. In beiden Fällen droht eine flügellahme Koalition, in der die Partner sich gegenseitig neutralisieren. Das ist schlecht für Deutschland und schlecht für Europa ... Ohne ein starkes und schlagkräftiges Deutschland ist Fortschritt in Europa nicht möglich.“