Erdoğan erklärt Botschafter zu "unerwünschten Personen"

Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen haben einen neuen Tiefpunkt erreicht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wies seinen Außenminister an, die Ausweisung von zehn Botschaftern westlicher Länder vorzubereiten, darunter die der USA, Deutschlands und Frankreichs. Kommentatoren bewerten die Folgen sehr unterschiedlich.

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T24 (TR) /

Wie soll Ankara jetzt verhandeln?

T24 fragt sich, wie die Beziehungen zu wichtigen politischen und wirtschaftlichen Partnern nach der Ausweisung weiter gehen sollen:

„Diese Botschafter zu unerwünschten Personen zu erklären, bedeutet gleichzeitig, die Beziehungen zu diesen Ländern zu unterbrechen - etwa mit den USA. Wie kann Erdoğan, der auf ein Treffen mit dem US-Präsidenten Biden hofft, aber seinen Botschafter ausweist, noch mit Biden zusammen kommen? Oder wo und wie will er mit den anderen Staats- und Regierungschefs sprechen? Wie wird er über die Türkei-EU Beziehungen, die sowieso an einem seidenen Faden hängen, mit den EU-Mitgliedstaaten sprechen? ... Möchte Erdoğan, der ernsthaft genervt ist von den demokratischen Forderungen westlicher Staaten und Institutionen, langsam den Westen loswerden?“

Yeni Şafak (TR) /

Äußere und innere Feinde vereint

Für die regierungsnahe Yeni Şafak sind die Forderungen der zehn Botschaften Teil eines internationalen Komplotts der türkischen Opposition mit westlichen Regierungen:

„Wir sind an einem sehr gefährlichen Punkt. Die Politik geht über die Achse Türkei hinaus. Die Opposition hat aufgehört, nur die politische Opposition zu sein. Man ist in die Phase der 'multinationalen Intervention' übergegangen. Alle Vorbereitungen gehen in diese Richtung. Das Ziel: die Türkei zu stoppen. Das ist die Agenda der USA, Europas und derer, die der regionale Aufstieg der Türkei stört.“

Handelsblatt (DE) /

Erdoğan ist in die Falle getappt

Ozan Demircan, Istanbul-Korrespondent des Handelsblatts, glaubt, dass der türkische Präsident in dem Konflikt nur verlieren kann:

„Jetzt können die zehn beteiligten Staaten, darunter viele EU-Mitglieder, wie folgt argumentieren: keine diplomatische Annäherung ohne Freilassung Kavalas; keine Gespräche über eine Zollunion ohne Freilassung Kavalas; keine 'positive Agenda' mit der EU ohne Freilassung Kavalas; und keine Annäherung mit Washington ohne Freilassung Kavalas. ... Sicher, die mögliche Ausweisung der zehn Botschafter mag ein Teil seiner Wähler vielleicht sogar begrüßen. Es hilft ihm aber am Ende nichts. Erdoğan ist dem Westen in die Falle getappt.“

Kristeligt Dagblad (DK) /

Europa muss seine Grenzen selbst schützen

Brüssel darf sich nicht von so einem Autokraten abhängig machen, stellt Kristeligt Dagblad klar:

„Ein verzweifelter Erdoğan ist auch eine schlechte Nachricht für die EU, die immer noch erpressbar ist mit dem milliardenschweren und moralisch zweifelhaften Flüchtlingsdeal mit der Türkei, der immer schwerer zu rechtfertigen ist. Europa muss seine Grenzen selbst beschützen, anstatt alle seine Eier in den Korb eines Autokraten zu legen. Die Nato kann nicht auf die Türkei verzichten, aber Dänemark und die neun anderen betroffenen Länder senden trotzdem ein wichtiges Signal an eine Türkei nach Erdoğan. Sie müssen an ihrer Forderung nach einem rechtsstaatlichen Verfahren für Osman Kavala festhalten.“

La Stampa (IT) /

Wir haben noch eine lange Nacht vor uns

Die EU sollte an die Türken, nicht nur an Erdoğan denken, mahnt die Schriftstellerin Ayşe Kulin in La Stampa:

„In anderthalb Jahren finden Wahlen statt, sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen. Schauen wir uns die Umfragen an, ist klar, dass die Regierungspartei eine Niederlage erleiden wird. ... Mit der massiven Abwertung der Lira, der Inflation und der weiter steigenden Arbeitslosigkeit befinden wir uns in einer noch nie dagewesenen Krise. ... Wir haben [aber] noch eine lange Nacht vor uns. ... Ich bin überzeugt, dass Kavala, ein großartiger und geduldiger Mann, in naher Zukunft aus dem Gefängnis entlassen werden wird. Europa kann uns sehr helfen. Aber es muss die gesamte Türkei im Blick haben, nicht nur den einen Mann, der im Präsidentenpalast wie in einem Elfenbeinturm sitzt.“