Kernkraft und Erdgas: Gut fürs Klima in der EU?

Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke sollen als klimafreundlich eingestuft werden. Das sieht ein Entwurf vor, den die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten vorgelegt hat. Der Vorschlag gilt als Kompromisslösung, der insbesondere Frankreich in Sachen Kernenergie und Deutschland im Bereich Erdgas Zugeständnisse macht. Europas Presse schwankt zwischen Zustimmung und Kritik.

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Financial Times (GB) /

Europa muss mit gutem Beispiel vorangehen

Die Einstufung von Erdgas als klimafreundlich darf nur eine Übergangslösung sein, findet Financial Times:

„Letztlich ist Erdgas keine grüne Energiequelle. Es auf die klimafreundliche Liste zu setzen, die eigentlich als internationaler 'Goldstandard' gelten soll, gefährdet Europas Führungsrolle in Sachen Klimaschutz und ermutigt andere Länder, weiter neue Gaskraftwerke zu bauen (Südkorea hat Flüssigerdgas vergangene Woche in seine grüne Klassifizierung aufgenommen). Erdgas spielt jedoch in der Übergangsphase eine vorübergehende Rolle. Reiche, demokratische Länder, wie die der EU, müssen zeigen, wie man nicht nur aus technologischer Sicht, sondern auch aus politischer Sicht klimaneutral wird und dabei die Kosten managt und verteilt.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Die EU lebt vom demokratischen Streit

Die Bundesregierung muss mit aller Vehemenz den Vorstoß der EU-Kommission zurückweisen, findet die taz:

„Und wenn Brüssel dennoch der Atomlobby den roten Teppich ausrollt, ist das zwar eine politische Niederlage. Aber selbst dann würde Deutschland keinesfalls dazu verpflichtet, qua europäischem Wert neue Reaktoren zu bauen. Wer das mit den erznationalen Regierungen in Polen und Ungarn auf eine Stufe stellt, die mit ihrem Vorgehen gegen die Pressefreiheit oder eine unabhängige Justiz gegen Grundpfeiler der EU verstoßen, spielt bewusst mit gezinkten Karten. Denn ein erbittert geführter Streit um die richtige Politik gegen den Klimawandel ist kein Verstoß gegen europäische Werte, er schmückt die Europäische Union, gerade weil man dabei verlieren kann.“

La Repubblica (IT) /

Scholz will Macron keinen Ärger machen

Es gehe hauptsächlich um einen politischen Kompromiss zwischen Paris und Berlin, meint La Repubblica:

„Scholz will keinen Konflikt mit Frankreich jetzt, da die europäische Präsidentschaft Frankreichs und Emmanuel Macrons Kampf um seine Wiederwahl im Elysée-Palast begonnen haben. … Scholz hatte sich bereits vor einiger Zeit mit Finanzminister Christian Lindner und Robert Habeck [Bundesminister für Wirtschaft und Energie] auf die deutsche Position verständigt. Im Herbst hatte die damals scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits angedeutet, dass es ein aussichtsloses Unterfangen sei, auf europäischer Ebene auf einer Politik ohne Atomkraft zu bestehen.“

Ria Nowosti (RU) /

Vorreiter des Atomausstiegs hechelt nun hinterher

Deutschland hat sich mit seiner Anti-Atom-Position ins energiepolitische Abseits manövriert, meint Ria Nowosti:

„Da haben sie lange freiwillig und unter Beifall auf das Atom verzichtet zugunsten des teureren Erdgases und erneuerbarer Energiequellen von kritischer Instabilität, während ihre Nachbarn nur abwarteten und die Ergebnisse des deutschen Experiments beobachteten. ... Jetzt gibt es die tragikomische Lage, dass gestrige Kernkrafthasser für deren Rückkehr und Ausbau plädieren und sich als fortschrittlich und umweltbewusst positionieren - während Deutschland, das als einziges Land alle Forderungen der industriellen atomaren Abrüstung erfüllte, in der Rolle des wissenschaftlichen und ökologischen Ewiggestrigen den Schlamassel hat.“

La Libre Belgique (BE) /

Pragmatismus nimmt Feuer aus der Debatte

Die Entscheidung könnte dabei helfen, endlich Bewegung in eine festgefahrene Debatte zu bringen, hofft La Libre Belgique:

„Der Pragmatismus der Kommission, diese Investitionen in Gas oder Atomkraft '2.0' zu fördern, wird die politischen Meinungen, die in dieser Frage sehr polarisiert sind, sicherlich stärker aufeinander prallen lassen, aber immerhin sorgt er dafür, dass wir wieder klarer sehen. Die entschiedenen Gegner dieses Vorschlags können immer noch sagen, dass er den führenden europäischen Nationen, also Frankreich (in Bezug auf die Kernenergie) und Deutschland (in Bezug auf das Gas) entgegenkommt. Wir wollen hoffen, dass der Pragmatismus der Kommission eher dazu beiträgt, die Debatte zu entschärfen, damit wir mit konkreten Schritten und effizient vorankommen. Das wäre ein großer Fortschritt.“

Echo24 (CZ) /

Noch ist die EU nicht verloren

Auch in der EU ist nichts in Stein gemeißelt, atmet Echo24 auf:

„Es ist nicht hoffnungslos, auch in Brüssel kann vieles geändert werden. Die Auswirkungen des Green Deals sind möglicherweise nicht so beängstigend, wie es ursprünglich schien. Letztlich will die EU-Kommission die Atomstromerzeugung sowie die Gasnutzung zu den sogenannten CO2-neutralen, grünen Quellen zählen. ... Das ist eine wichtige Nachricht für Tschechien, das mit anderen Ländern aus Skandinavien, Polen, Ungarn, aber vor allem mit der Macht Frankreichs diese Verhaltensänderung erreicht hat. ... Wichtig für den Fortbestand der Union ist, dass Veränderungen auch dann möglich sind, wenn die Deutschen eine Niederlage nicht so leicht hinnehmen. “

Rzeczpospolita (PL) /

Gute Nachricht für Polen

Rzeczpospolita begrüßt den EU-Entwurf:

„Die mittel- und osteuropäischen Länder wollen die Transformation ihrer Energieversorgung auf zwei Quellen stützen: Kernenergie und Erdgas. Die Vorschläge der Europäischen Kommission sind somit eine gute Nachricht für Polen. ... Allerdings ist es heute noch schwer abzuschätzen, ob der Vorschlag der EU-Kommission angenommen werden wird. Mit Sicherheit spaltet er die tragenden Säulen der EU: Frankreich und Deutschland. Ersteres (mit Unterstützung Polens und anderer Länder der Region, aber auch der Niederlande, Belgiens und Finnlands) unterstützt die neue Einschätzung nachdrücklich. Berlin, das seit einem Jahrzehnt schrittweise die heimischen Atommeiler abbaut, ist dagegen und hat unter anderem Spanien, Österreich und Dänemark auf seiner Seite.“

Jornal de Notícias (PT) /

Bitte auch an Wasserstoff denken!

Jornal de Notícias wünscht sich eine Debatte jenseits der Kernenergie:

„Ungeachtet der Aufregung um die Kernenergie ist es im Hinblick auf die Mobilität wichtig, eine ernsthafte Debatte über die Wahl zwischen Elektroautos und Wasserstoff zu führen. Werden wir auch hier ein Konzert der europäischen Dissonanzen erleben? Nach Angaben von [der Unternehmensberatung] McKinsey kann Wasserstoff bis 2050 mit mehr als 20 Prozent zur weltweiten Dekarbonisierung beitragen. Die Einrichtung von Tankstellen ist kein schwieriger Schritt und würde einen Markt schaffen, wie es bei den Elektroladestationen der Fall ist. ... Die Alternativen sind vorhanden, aber es fehlt an koordinierten Entscheidungen auf europäischer Ebene.“

Wiener Zeitung (AT) /

Geld besser in Zukunftstechnologien stecken

Die EU-Kommission sucht die Lösung für die Klimakrise in der Vergangenheit, kritisiert die Wiener Zeitung:

„Die Fronten sind klar: Die Atomkraftgegner in der EU sammeln sich hinter Berlin, die Kernkraftbefürworter hinter Paris. … Das Argument, dass bei Atomkraftwerken kein klimaschädliches Kohlendioxid entsteht, mag zwar stimmen, aber die Technologie ist bis heute unversicherbar und es gibt in ganz Europa kein einziges Endlager für die abgebrannten Brennstäbe, die noch tausende von Jahren radioaktiv sein werden. Anstatt Geld in Nukleartechnologie zu pumpen, scheint es doch deutlich vernünftiger, dieses Geld in die Erforschung von Speichertechnologien zu stecken.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Zum Glück können Investoren rechnen

Die Frankfurter Rundschau kann es nicht fassen:

„Strahlengefahr? Atommüll, der eine Million Jahre sicher endgelagert werden muss? Riesige Umweltschäden durch den Uranerz-Bergbau? Das alles scheint die EU-Kommission nicht zu interessieren. … Investoren sollen ihr Geld in die Atomkonzerne stecken können, weil sie damit ja etwas für das Ziel der Klimaneutralität tun - und das auch noch guten Gewissens. Absurder geht’s kaum. … Ein Trost ist nur, dass die Atomkraft nach allem, was man weiß, trotz des grünen Etiketts künftig nur eine Nebenrolle spielen wird. Sie ist, verglichen mit den Alternativen, einfach zu teuer. Und die meisten Investoren können rechnen.“

La Stampa (IT) /

Ohne Atom droht der Netzkollaps

Gäbe es keine Kernenergie, läge Europa im Dunkeln, mahnt Davide Tabarelli, Professor an der Universität Bologna, in La Stampa:

„Abgesehen vom Produktionsrekord ist die Kernenergie unverzichtbar, denn sie ist der harte Kern, die Grundkapazität, die für die Stabilität eines äußerst komplexen Systems sorgt, das man als das Nervensystem Europas bezeichnen könnte. ... Die Kernenergie sorgt zusammen mit Kohle und Gas dafür, dass die Stromversorgung konstant gehalten wird, überall, in Krankenhäusern, Supermärkten, unseren Häusern und Mobiltelefonen. … An die großen Reaktoren sind Millionen kleine Anlagen angeschlossen, die zur Produktion erneuerbare Energien nutzen, die jedoch unstetig sind und ein großes Durcheinander in den Versorgungsnetzen verursachen.“

Lidové noviny (CZ) /

Alles andere wäre unlogisch

Lidové noviny begrüßt die Entscheidung und erinnert daran, dass die Atomkraft in den Genen der europäischen Zusammenarbeit liegt:

„Die EU-Kommission ist durch unerbittliche Logik zur Kernkraft gedrängt worden. Wenn die EU den Ausstoß von Treibhausgas rasant begrenzen will, braucht sie neben den erneuerbaren Energien weitere stabile Energiequellen. Technisch kommt da bisher nur die Kernenergie in Frage. Europa kehrt damit übrigens zu seinen Wurzeln zurück. Eine der Bausteine der europäischen Integration war Euratom. Mit dem Ziel, die Bedingungen für die 'schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien' zu schaffen.“

De Standaard (BE) /

Fauler Kompromiss besser als Uneinigkeit

Der Pragmatismus hat gesiegt, beobachtet De Standaard:

„Eine alternative Lösung wäre gewesen, keine der beiden Technologien als grün oder nachhaltig zu erklären. Das hätte die Klima- und Umweltbewegung vorgezogen. Das wäre ein gewagter Schritt gewesen, mit dem die Kommission sowohl ihre Unabhängigkeit als auch ihr Klimaengagement deutlich gemacht hätte. Aber der Pragmatismus siegte. Eine prinzipientreue Grundsatzentscheidung wäre wahrscheinlich von den Mitgliedsstaaten abgeschossen worden. Man kann es eine verpasste Chance nennen. Aber zugleich ist die Frage, ob es dem Klima nützt, wenn die langandauernde politische Uneinigkeit der Entscheidungsfindung im Weg steht. “