Schafft Macron die Wiederwahl?

Es könnte knapp werden: Emmanuel Macron verliert in den Umfragen seinen Vorsprung auf Marine Le Pen. Laut einer Umfrage von Sonntag (Ifop) steht der amtierende Präsident bei 27 Prozent, die Kandidatin des Rassemblement National bei 22 Prozent. Das führt in der europäischen Presse zu Spekulationen über einen möglichen Sieg Le Pens im zweiten Wahlgang.

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La Stampa (IT) /

Wähler könnten Macron die Unterstützung verweigern

Sowohl linke als auch rechte Wähler könnten Macron ihre Stimme verweigern, meint La Stampa:

„Während 2017 niemand einen Euro auf den Sieg der Erbin des charismatischen Jean-Marie, des historischen Anführers der extremen Rechten, gewettet hätte, scheint die französische Gesellschaft heute weniger geeint zu sein. Wenn das 'System' mit Macron und seiner Idee einer 'Start-up-Nation' einverstanden ist, was wird das Volk sagen? Nach fünf Jahren bleibt Macron schwer fassbar, wie Le Monde schrieb, und steht nun vor einem politischen Paradoxon: Werden sich rechte und linke Wähler zusammenschließen, um den Präsidenten zu schlagen, der gesagt hat, er sei weder rechts noch links?“

Libération (FR) /

Merkwürdiges Kalkül des Amtsinhabers

Die späte Bekanntgabe seiner Kandidatur, das Verweigern einer TV-Debatte mit seinen Herausforderern und nur ein großer Wahlkampfauftritt - Libération beobachtet, dass Macron den Wahlkampf vermeidet und kann das Kalkül nicht nachvollziehen:

„Macron hat nicht viel vorgelegt, was an den Theken der Frühstückscafés für Gesprächsstoff sorgen könnte. Bei seinem einzigen Wahlkampfauftritt am Samstag im Pariser Défense-Viertel hat er der Verteidigung seiner Politik viel Zeit gewidmet und dabei das geflügelte Wort vergessen, demzufolge man eine Wahl nicht mit einer Bilanz gewinnt. Seine Strategie, dem Wahlkampf auszuweichen, noch verstärkt durch den Ukraine-Krieg, wendet sich nun gegen ihn. Diese Strategie ist umso überraschender, als er weiß, dass die Demokratie Ausweichen nicht erträgt. Und auch weil er im Debattieren nicht völlig ungeschickt ist.“

Le Temps (CH) /

Corona-Politik hat Begehrlichkeiten geweckt

Macrons Haushaltspolitik könnte die Chancen seiner Gegner im rechten und linken Spektrum vergrößert haben, fürchtet Le Temps:

„Einerseits sollte die Mehrheit der Wähler aus Vernunft für aussichtsreiche Kandidaten mit Wirtschaftskompetenzen (Macron oder Pécresse zum Beispiel) stimmen. Zumal die Vorschläge von Le Pen, Zemmour und Mélenchon eine ernsthafte Konfrontation auf europäischer Ebene bedeuten würden. … Allerdings ist die Lage 2022 anders. Das 'koste es, was es wolle' der Pandemie hat seine Spuren hinterlassen. Staatsgelder flossen in Strömen. Macron hat sich dafür entschieden, XXL-Schecks zu unterschreiben, um die Wirtschaftskrise abzufedern. Wie soll man da zur Vernunft und zum unerlässlichen Haushaltsgleichgewicht zurückfinden?“

Financial Times (GB) /

Bester Mann seit Mitterand

Der Amtsinhaber kann im Großen und Ganzen auf Erfolge zurückblicken, lobt Financial Times:

„Macron hat nicht alles erreicht, was er versprochen hat, aber an der Wirtschafts- und EU-Front war er der einflussreichste Präsident seit der Amtszeit von François Mitterrand von 1981 bis 1995. Zu seinen Errungenschaften gehören Steuersenkungen für Unternehmen und Privathaushalte, die Senkung der chronisch hohen Arbeitslosenquote in Frankreich und die geschickte Bewältigung der Pandemie, sodass sich die Wirtschaft schneller erholte als anderswo in Europa. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der wegweisenden Entscheidung der EU, ein Corona-Hilfspaket zu schnüren, das die gemeinsame Aufnahme von Schulden und Investitionen beinhaltet.“

The Daily Telegraph (GB) /

Diesmal hat sie eine echte Chance

Mit der Unterstützung durch linke Wähler darf der Amtsinhaber bei dieser Wahl kaum rechnen, meint The Daily Telegraph:

„Emmanuel Macron hat während seiner Präsidentschaft zeitweise so streng und autoritär regiert, dass seine alarmistischen Warnungen vor dem Vormarsch der 'extremen Rechten' bei großen Teilen der Öffentlichkeit auf taube Ohren stoßen. ... Macron wird von Millionen Linken verabscheut. Sie werden seinem Aufruf nicht folgen, ihm ihre Stimme zu geben, um Le Pen abzuwehren. So wie bei der britischen Parlamentswahl 2019 traditionell Labour-treue Regionen zu den Konservativen wechselten, könnte 2022 das Jahr werden, in dem in Frankreich die Republikanische Front [Bündnis gegen die extreme Rechte] zusammenbricht. Und wenn sich der Staub gelegt hat, könnte Frankreich seine erste Präsidentin haben.“

La Libre Belgique (BE) /

Präsident geht geschwächt ins Rennen

Le Pens aktuelle Stärke lässt sich durch mangelnde Begeisterung für Macron und seinen schwachen Wahlkampf erklären, analysiert La Libre Belgique:

„Diese beispiellose Aufholjagd von Marine Le Pen zeugt von einer gewissen Widerstandsfähigkeit. ... Und es gibt weitere alarmierende Signale. Dazu gehört die Ablehnung - gar der tiefsitzende Hass - auf die Macron bei einigen stößt. Seine durchwachsene Bilanz weckt Erinnerungen an eine von Krisen geprägte Amtszeit ('Gelbwesten', Covid-19 und Krieg in der Ukraine). Seine Strategie, die erste Wahlkampfrunde praktisch auszulassen, ist ebenso wenig hilfreich wie die Affäre um die übermäßige Inanspruchnahme von McKinsey-Beratern. Man kann kaum von einer guten Kampagne sprechen. Und auf der Gegenseite spult Marine Le Pen einfach [ihr Programm] ab...“

La Tribune (FR) /

Le Pen übernimmt Macrons Strategie

Le Pen ist in den Umfragen derart erfolgreich, weil es ihr gelungen ist, sich als wählbare Kandidatin zu präsentieren, erklärt La Tribune:

„Zemmours Radikalität hat Le Pen weiter ins Zentrum gerückt und sie als Opfer dargestellt. Die Vorwahl von Les Républicains tat ihr Übriges, in der die Debatte über die Null-Einwanderungs-Strategie als normal erschien, die bislang dem Rassemblement National (RN) vorbehalten war. In einem unerwarteten Kunstgriff hat Marine Le Pen das 'gleichzeitig links und rechts' [von Macron] übernommen, um eine breitere Wählerschaft mit einem hybriden Wirtschaftsprogramm für sich zu gewinnen. ... So als wolle sie vergessen machen, dass das Programm des RN im Wesentlichen rechtsextrem bleibt.“