Korruption: Wie demokratisch ist die Ukraine?
Wegen des Korruptionsskandals im Energiesektor der Ukraine wird im direkten Umfeld von Präsident Selenskyj ermittelt. Justizminister Herman Haluschtschenko und Energieministerin Switlana Hryntschuk erklärten ihre Rücktritte. Kommentatoren werfen einen Blick auf die Frage, ob unabhängige Kontrollmechanismen und die Demokratie im Land funktionieren.
Wenn Macht zur Falle wird
Die derzeitige Krise ist auch eine Folge der Unmöglichkeit, Wahlen im Krieg abzuhalten, schreibt Dserkalo Tyschnja:
„Die kontinuierliche Ausübung der Macht ohne Wahlen hat zu ihrer Degenerierung geführt. Auf allen Ebenen. Das zeigt sich an den Entscheidungen des Parlaments und am Verhalten der lokalen Behörden. ... Die einzige Chance für Selenskyj, das Rad herumzureißen, bestünde darin, sich an Fachleute zu wenden, die Regierungsämter übernehmen sollen, und ihnen den in der Verfassung vorgesehenen Anteil der Macht zu delegieren. Die Eigenständigkeit des Parlaments wiederherzustellen. Mit fairen Auswahlverfahren einen Neustart des Justizsystems einzuleiten. Die Zügel der Geheimdienste loszulassen.“
Krieg ist der Nährboden
Die Kronen Zeitung kann dem Korruptionsskandal auch etwas Positives abgewinnen:
„[Es] muss festgehalten werden, dass das Korruptionsnetzwerk durch die unabhängige Antikorruptionsbehörde aufgedeckt worden ist. Wo nichts aufgedeckt wird, ist auch keine Korruption – wie etwa in Russland. Dort ist angeblich alles supersauber. ... In der Ukraine funktionieren also noch die letzten demokratischen Kontrollmechanismen. Dennoch ist die Korruption ein Ungeheuer wie die Hydra, der man noch so viele Köpfe abschlagen kann – sie wachsen immer nach. Kriege sind der Nährboden für krumme Geschäfte, und das Übel reicht zurück in die kommunistische Vergangenheit.“
Kampf an allen Fronten
Der Korruptionsskandal ist ein gefundenes Fressen für die russische Propagandamaschinerie, beobachtet Dagens Nyheter:
„Auf Tiktok werden gefälschte Videos von ukrainischen Soldaten verbreitet, die weinend ihre Waffen niederlegen. Das Ziel ist, den Kampfwillen zu untergraben – und uns im Westen glauben zu machen, dass es keinen Sinn hat, das Land zu unterstützen, dass es vorbei ist. ... Gleichzeitig kommen aus Russland ständig neue Berichte, dass die Wirtschaft wankt, die Inflation hoch ist und die Unzufriedenheit brodelt. Die Ukrainer ihrerseits verlassen sich nicht auf ein Wunder. Sie kämpfen gegen Korruption, für ihre Unabhängigkeit und Demokratie.“
Das ist erst der Anfang
Es wird weitere brisante Enthüllungen geben, vermutete La Repubblica:
„Die Untersuchung gegen eine Bande korrupter Personen, die internationale Hilfsgelder zum Schutz von Kraftwerken und Energieinfrastruktur vor russischen Angriffen missbrauchten, breitet sich rasant aus. ... Tymur Minditsch, Mitinhaber des von Selenskyj gegründeten Rundfunkunternehmens Studio Kwartal 95 und ein enger Freund des Präsidenten, gilt als Drahtzieher des Skandals: Er floh, als Nabu-Agenten bei ihm zu Hause auftauchten. ... Doch über den Vertrauten des Präsidenten ziehen weitere dunkle Wolken auf: Im Zuge der Ermittlungen ist der Name von Rustem Umjerow, Sekretär des von Selenskyj geleiteten Sicherheitsrates und einer der Hauptverhandlungsführer [über eine Waffenruhe], aufgetaucht.“
Scharfer Kontrollblick aus dem Westen
Selenskyj hat keine andere Wahl, als Aufklärung zu fordern, selbst wenn dies seinen Sturz bedeutet, glaubt The Spectator:
„Selenskyj selbst unterstützt öffentlich das Vorgehen gegen Korruption und erklärte in seiner nächtlichen Ansprache an die Nation, dass es 'Strafen geben muss'. … Die Standardreaktion vieler Selenskyj-Anhänger wird sein, die Vorwürfe als Verleumdungen des Kremls abzutun. Tatsächlich stützte Selenskyj seinen Versuch, [das Antikorruptionsbüro] Nabu im Juli unter seine Kontrolle zu bringen, auf vage und nie belegte Behauptungen über eine russische Unterwanderung der Behörde. Doch da der Westen genau hinschaut, hat Selenskyj kaum eine andere Wahl, als Nabus Vorgehen gegen seine engsten Verbündeten und Geschäftspartner zu billigen und die Folgen für seinen Ruf und seine politische Zukunft in Kauf zu nehmen.“
Regierungswechsel so schnell wie möglich
Dieser Skandal schadet dem EU-Beitrittsprozess der Ukraine, warnt Visão:
„Seit 2022, mit dem Beginn des Krieges und dem Vorantreiben des Beitrittsprozesses, fließt eine Flut von Geld in die Ukraine. Dies erfordert eine beispiellose Wachsamkeit, damit kein Teil der dem Land gewährten Hilfe in Frage gestellt wird. Leider wird dies ein weiteres Thema sein, das Putin aufgreifen kann, obwohl er der Führer eines der korruptesten Länder der Welt ist. Selenskyj muss auf allen Ebenen entschlossen und schnell handeln. ... Die Verbündeten brauchen schnelle Erklärungen, um ein Einfrieren aller Hilfen, wenn auch nur vorübergehend, zu vermeiden. Die Ukraine braucht eine neue Regierung.“
Kyjiw braucht Europas Beistand mehr denn je
Die Unterstützung durch die EU darf trotz des Skandals nicht nachlassen, fordert Der Standard:
„All das ist freilich Wasser auf die Mühlen der Kreml-Freunde, die nun einmal mehr fordern, keine weiteren EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine zu führen und dieser den Geldhahn zuzudrehen. Dabei gilt es gerade jetzt, die demokratischen Strukturen im Land zu stärken. So wie im Sommer, als die Unabhängigkeit des Nationalen Antikorruptionsbüros und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft eingeschränkt werden sollte. Das konnte damals verhindert werden – durch Proteste auf den Straßen und durch Druck aus Europa. Letzterer kann aber nur greifen, wenn man die EU-Beitrittsambitionen der Ukraine prinzipiell unterstützt, statt das leidgeprüfte Land bei jeder Gelegenheit zu brüskieren.“
Zivilgesellschaft bleibt unbeirrt
Die Welt ist beeindruckt von der Resilienz der Zivilgesellschaft:
„Die ließ sich im Sommer auch durch den Krieg nicht beirren – die ukrainischen Bürger gingen massenhaft auf die Straße, um die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörde zu bewahren. Selenskyj sah sich deshalb am Ende gezwungen, dem Druck seiner Bürger und der Europäer nachzugeben und die Eigenständigkeit der Behörde wieder herzustellen. Dass die Ukrainer trotz Krieg nicht bereit waren, die Reformuhr zurückdrehen zu lassen, zeigt, wie resilient die Zivilgesellschaft auch politisch ist. Und wie wichtig es den Ukrainern ist, ihren Weg in Richtung Europa und europäischer Werte fortzusetzen.“
Selbstmörderischer Verrat
Espreso ist erzürnt:
„Das Ganze wirkt wie etwas zwischen Selbstmord und Verrat – vor allem, wenn man bedenkt, dass die jüngsten russischen Angriffe genau auf jene Umspannwerke zielten, die die ukrainischen Atomkraftwerke mit Strom versorgen. Eines davon ist das Kernkraftwerk Chmelnyzkyj, das im Epizentrum des Korruptionsskandals steht. ... Wenn wir also fragen: Wo ist denn der versprochene Schutz [der Energieinfrastruktur]? Dann erinnert euch an die Sporttaschen voller Euro und Dollar, die offensichtlich für etwas Anderes gedacht waren – aber nicht dafür, dass die Menschen den Winter wenigstens mit minimalem Komfort überstehen oder dass unsere Truppen bei Pokrowsk ausreichend Drohnen haben.“
Präsident von allen Seiten bedrängt
Es ist keine einfache Zeit für Wolodymyr Selenskyj, befindet Corriere della Sera:
„Die Russen drängen an den Kampflinien, Korruptionsskandale schwächen die innere Front, und die Trump-Regierung scheint bereit zu sein, ihm Steine in den Weg zu legen, obwohl er eigentlich Waffen und Munition von den Verbündeten bräuchte. … Die innenpolitische Lage in der Ukraine wird zusätzlich durch einen Skandal belastet, in den mehrere Führungskräfte der nationalen Energieunternehmen verwickelt sind. Ein brisantes Thema, insbesondere jetzt, da die russischen Bombardierungen das Land ins Halbdunkel tauchen. ... Der Präsident, der in der Vergangenheit versucht hatte, die Arbeit der Ermittlungsbehörden zu boykottieren, begrüßt derzeit die Ermittlungen und fordert dazu auf, 'aufzuräumen'.“
Als Verschwörung nicht zielführend
Radio Kommersant FM erwartet nicht, dass der Skandal Selenskyj zu Fall bringen wird:
„Man kann in all dem eine große Verschwörung gegen Wolodymyr Selenskyj sehen. Etwa mit dem Ziel, auf ihn Druck auszuüben um ihn zu zwingen, seine Verhandlungsposition zu mildern, oder sogar, um den Rücktritt des Staatschefs zu erreichen. ... Es fällt auf, dass die ukrainischen Politiker sich nicht besonders darum reißen, sich hinter einer einzelnen Person zu versammeln, selbst angesichts der sehr schwierigen Lage. Dabei wird Selenskyj mit höchster Wahrscheinlichkeit seinen Posten nicht räumen und seine Haltung kaum ändern. Zwar hat er sich von Minditsch distanziert. Letzterer ist aber ausgereist, sodass er seinen alten Freund kaum anschwärzen wird.“