Die Türkei hat über drei Millionen Syrern Schutz gewährt. Doch jetzt tritt sie selber eine Flüchtlingskrise los.
Der Einmarsch türkischer Truppen in die nordsyrische Stadt Afrin ist mit dem zweiten Jahrestag des Flüchtlingsabkommens mit der EU zusammengefallen. Am 18. März 2016 hatten Brüssel und Ankara einen Deal besiegelt, der die Flüchtlingsboote in der Ägäis zwar nicht stoppte, aber deren Zahl drastisch reduzierte. Erdogan gelobte, die Grenzkontrollen zu verschärfen, und sicherte sich im Gegenzug 6 Milliarden Euro für die Unterbringung syrischer Bürgerkriegsopfer.
Bei der Bewältigung der syrischen Flüchtlingskrise hat die Türkei in den vergangenen sieben Jahren mehr Lasten geschultert als zahlreiche hochentwickelte Länder. Aus Zehntausenden von Schutzsuchenden, die dem Gemetzel in ihrer Heimat entkommen waren, wurden bald Hunderttausende. Schliesslich fanden über drei Millionen in der Türkei Unterschlupf. In einigen Grenzgemeinden leben mehr Syrer als Türken. Das ging nicht ohne Konflikte, aber es ging. Mit seinem Feldzug in Nordsyrien hat der Staatschef Erdogan jetzt aber selber eine Fluchtwelle losgetreten. Am Montag bekräftigte er, dass sich die Operation mit dem deplacierten Namen «Olivenzweig» nicht auf Afrin beschränken werde. Ein Dauerbombardement auf die kurdische Enklave vertrieb Zehntausende. Aus deren Optik wurde die Stadt nicht befreit, wie Ankaras Propagandamaschinerie trompetet, sondern besetzt. Für sie ist es der reine Hohn, wenn Erdogan erklärt, die «gesäuberten» Gebiete würden den rechtmässigen Besitzern zurückgegeben. Ob Erdogan darauf setzt, die aufmüpfigen Kurden aus dem Grenzgebiet zu vertreiben und dort syrische Araber aus türkischen Flüchtlingslagern anzusiedeln? Es ist eine Vermutung, aber keine unplausible.
Unbestritten ist derweil, dass die türkische Willkommenskultur ihren Zenit überschritten hat. In der Bevölkerung und bei den politischen Eliten rumort es. Selbst die sozialdemokratische Spitze fragt unverhohlen, wieso eigentlich die eigenen Soldaten in Syrien den Märtyrertod stürben, wenn man auch syrische Flüchtlinge an die Front schicken könnte. Erdogan sieht sich unter Zugzwang. Bei den Wahlen, die spätestens 2019 stattfinden, soll der Übergang zu einem Präsidialsystem abgeschlossen werden. Diesen Sieg will er sich auf keinen Fall nehmen lassen.
Manche Türken argwöhnen, das Schwellenland kümmere sich um Millionen Flüchtlinge, erhalte aber nicht, was die EU versprochen habe: die Visabefreiung für den Schengenraum. Anders als von Erdogan behauptet, liegt die Schuld aber nicht bei den Europäern. Mit seinem donnernden Marsch in die Autokratie hat sich Erdogan den Weg nach Brüssel selber verbaut. Die Ernte aus dem Flüchtlingsabkommen fiel geringer aus als erhofft. Allerdings beherrscht es der türkische Staatschef meisterhaft, am sorgsam gepflegten Opfermythos zu stricken. Er handelt von einer Nation, die selbstlos Flüchtlinge aufnimmt, aber beim arroganten Westen auf Ablehnung stösst.
Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens mit der EU liegt die türkische Demokratie dermassen in Trümmern, dass hierzulande kaum jemand die Militäroffensive in Syrien und die zynische Flüchtlingspolitik infrage stellt. Auch der Westen hüllt sich in Schweigen oder übt höchstens handzahme Kritik. Offenkundig befürchten manche, der zornige Mann am Bosporus könnte den Pakt auflösen – eine Drohung, die Ankara im Halbjahrestakt wiederholt. Dabei ist eine neue Massenflucht Richtung Griechenland unwahrscheinlich. Viele Migranten wissen, dass sie in einem trostlosen Internierungslager enden würden. Es würde Europa gut anstehen, mehr Rückgrat gegenüber Erdogan zu zeigen.