Kommentar

Die Ernte aus dem Flüchtlingsabkommen fiel für Erdogan geringer aus als erhofft

Die Türkei hat über drei Millionen Syrern Schutz gewährt. Doch jetzt tritt sie selber eine Flüchtlingskrise los.

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul
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Die türkische Willkommenskultur hat ihren Zenit überschritten.(Bild: Murat Cetinmuhurdar / AP)

Die türkische Willkommenskultur hat ihren Zenit überschritten.(Bild: Murat Cetinmuhurdar / AP)

Der Einmarsch türkischer Truppen in die nordsyrische Stadt Afrin ist mit dem zweiten Jahrestag des Flüchtlingsabkommens mit der EU zusammengefallen. Am 18. März 2016 hatten Brüssel und Ankara einen Deal besiegelt, der die Flüchtlingsboote in der Ägäis zwar nicht stoppte, aber deren Zahl drastisch reduzierte. Erdogan gelobte, die Grenzkontrollen zu verschärfen, und sicherte sich im Gegenzug 6 Milliarden Euro für die Unterbringung syrischer Bürgerkriegsopfer.

Bei der Bewältigung der syrischen Flüchtlingskrise hat die Türkei in den vergangenen sieben Jahren mehr Lasten geschultert als zahlreiche hochentwickelte Länder. Aus Zehntausenden von Schutzsuchenden, die dem Gemetzel in ihrer Heimat entkommen waren, wurden bald Hunderttausende. Schliesslich fanden über drei Millionen in der Türkei Unterschlupf. In einigen Grenzgemeinden leben mehr Syrer als Türken. Das ging nicht ohne Konflikte, aber es ging. Mit seinem Feldzug in Nordsyrien hat der Staatschef Erdogan jetzt aber selber eine Fluchtwelle losgetreten. Am Montag bekräftigte er, dass sich die Operation mit dem deplacierten Namen «Olivenzweig» nicht auf Afrin beschränken werde. Ein Dauerbombardement auf die kurdische Enklave vertrieb Zehntausende. Aus deren Optik wurde die Stadt nicht befreit, wie Ankaras Propagandamaschinerie trompetet, sondern besetzt. Für sie ist es der reine Hohn, wenn Erdogan erklärt, die «gesäuberten» Gebiete würden den rechtmässigen Besitzern zurückgegeben. Ob Erdogan darauf setzt, die aufmüpfigen Kurden aus dem Grenzgebiet zu vertreiben und dort syrische Araber aus türkischen Flüchtlingslagern anzusiedeln? Es ist eine Vermutung, aber keine unplausible.

Unbestritten ist derweil, dass die türkische Willkommenskultur ihren Zenit überschritten hat. In der Bevölkerung und bei den politischen Eliten rumort es. Selbst die sozialdemokratische Spitze fragt unverhohlen, wieso eigentlich die eigenen Soldaten in Syrien den Märtyrertod stürben, wenn man auch syrische Flüchtlinge an die Front schicken könnte. Erdogan sieht sich unter Zugzwang. Bei den Wahlen, die spätestens 2019 stattfinden, soll der Übergang zu einem Präsidialsystem abgeschlossen werden. Diesen Sieg will er sich auf keinen Fall nehmen lassen.

Zwei Monate nach Beginn ihrer Operation soll die mit der Türkei verbündete Freie Syrische Armee (FSA) am Sonntag (18.3.) die stark umkämpfte Stadt Afrin eingenommen haben. Die Eskalation hat in den letzten Tagen mehr als 200 000 Einwohner in die Flucht getrieben, wie etwa diese Familie mit drei Kindern und einem Baby. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
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Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) fahren in Siegespose durch Afrin (18.3.). Das Zentrum stehe seit Sonntag um 8 Uhr 30 morgens unter «totaler Kontrolle» der FSA, teilte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Sonntagmittag mit. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
Leidtragende der neuesten Kämpfe sind ein weiteres Mal die Zivilisten. Wer kann, flüchtet mit seinem Hab und Gut aus dem Gebiet, so wie diese kurdische Familie. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
Zur Flucht aus Afrin greift die Bevölkerung auch auf einfachste Fahrzeuge wie diese Traktoren zurück. Die syrischen Kurden wollen die Eroberung Afrins laut Agenturberichten nicht hinnehmen; sie drohten den türkischen Besetzern einen Guerillakrieg an. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
Angst und Ungewissheit steht den Flüchtenden ins Gesicht geschrieben. Während der Angriffe auf Afrin sollen mehr als 280 Zivilisten getötet worden sein. Ankara bestreitet dies. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben während der zweimonatigen Offensive 1500 kurdische Kämpfer sowie 400 von der Türkei angeheuerte Rebellen. (Bild: Bulent Kilic / AFP)
In Qamishli, einer Stadt im Gouvernement al-Hasaka im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei, gehen am Sonntag (18.3.) viele Kurden auf die Strasse und fordern ein sofortiges Ende der Kämpfe. (Bild: Rodi Said / Reuters)
Diese Soldaten der Freien Syrischen Armee fahren am Sonntag durch Afrin und feuern Salven ab. Am Fernsehen und im Internet war zu sehen, wie die Truppen triumphierend durch die Strassen ziehen. (Bild: Aref Tammawi / EPA)
In Afrin nähern sich die siegreichen Truppen dem Rathaus, um dort die eigenen Flaggen anzubringen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Grossbritannien, die sich auf örtliche Quellen stützt, bestätigte den Einmarsch. (Bild: Aref Tammawi / EPA)
«Jetzt wehen die Symbole von Vertrauen und Stabilität», sagte Erdogan, nachdem die syrische und die türkische Flagge am Rathaus angebracht worden waren. Türkische Spezialeinheiten durchkämmten die Strassen auf der Suche nach Minen und Sprengfallen. (Bild: DHA-Depo Photos via AP)
Die in Afrin einmarschierten Soldaten feiern den Sieg über die Kurdish Popular Protection Units (YPG). Die Türkei hatte am 20. Januar die Offensive gegen die kurdische Miliz YPG gestartet und in Aussicht gestellt, die «Säuberungsaktion» auszuweiten, bis die Stadt befreit sei. (Bild: Aref Tammawi / EPA)
Türkische Truppen und Soldaten der Freien Syrischen Armee schreiten am Sonntag (18.3.) zu einer Zerstörungsaktion, welche die Kurden demütigen soll: Im Zentrum von Afrin wird die Statue des kurdischen Helden Kawa stark beschädigt. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
Mitglieder der Freien Syrischen Armee und der türkischen Truppen nehmen die Statue des kurdischen Helden Kaveh ein. Nach der Mythologie war Kaveh ein Freiheitskämpfer, der seine Schmiedeschürze als Flagge des Aufstandes benutzt haben soll. (Bild: DHA-Depo Photos via AP)
Ein Bagger bringt die Statue des kurdischen Helden Kaveh endgültig zu Fall. Kaveh, der Schmied, gilt weitherum als Symbol der Befreiung und der Moderne, weil er gemäss Mythologie den Übergang von der Epoche des Steins ins Metallzeitalter darstellen soll. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)
Der türkische Staatschef Erdogan (vorne, 2.v.r.) soll sich sehr erfreut über die Einnahme der Stadt Afrin gezeigt haben. Erdogan nahm am Sonntag (18.3.) im türkischen Canakkale mit seinem Premierminister Binali Yildirim (3.v.r.) an einer Zeremonie zum 103. Jahrestag der Schlacht von Gallipoli teil. Im ersten Weltkrieg kämpften die Alliierten gegen das Osmanische Reich, das ein enger Verbündeter des Deutschen Kaiserreiches war. Die entscheidenden Schlachten fanden am 18. März und am 25. April 1915 statt. (Bild: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Palace/Handout via Reuters) Zum Artikel

Zwei Monate nach Beginn ihrer Operation soll die mit der Türkei verbündete Freie Syrische Armee (FSA) am Sonntag (18.3.) die stark umkämpfte Stadt Afrin eingenommen haben. Die Eskalation hat in den letzten Tagen mehr als 200 000 Einwohner in die Flucht getrieben, wie etwa diese Familie mit drei Kindern und einem Baby. (Bild: Khalil Ashawi / Reuters)

Manche Türken argwöhnen, das Schwellenland kümmere sich um Millionen Flüchtlinge, erhalte aber nicht, was die EU versprochen habe: die Visabefreiung für den Schengenraum. Anders als von Erdogan behauptet, liegt die Schuld aber nicht bei den Europäern. Mit seinem donnernden Marsch in die Autokratie hat sich Erdogan den Weg nach Brüssel selber verbaut. Die Ernte aus dem Flüchtlingsabkommen fiel geringer aus als erhofft. Allerdings beherrscht es der türkische Staatschef meisterhaft, am sorgsam gepflegten Opfermythos zu stricken. Er handelt von einer Nation, die selbstlos Flüchtlinge aufnimmt, aber beim arroganten Westen auf Ablehnung stösst.

Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens mit der EU liegt die türkische Demokratie dermassen in Trümmern, dass hierzulande kaum jemand die Militäroffensive in Syrien und die zynische Flüchtlingspolitik infrage stellt. Auch der Westen hüllt sich in Schweigen oder übt höchstens handzahme Kritik. Offenkundig befürchten manche, der zornige Mann am Bosporus könnte den Pakt auflösen – eine Drohung, die Ankara im Halbjahrestakt wiederholt. Dabei ist eine neue Massenflucht Richtung Griechenland unwahrscheinlich. Viele Migranten wissen, dass sie in einem trostlosen Internierungslager enden würden. Es würde Europa gut anstehen, mehr Rückgrat gegenüber Erdogan zu zeigen.

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