Kommentar

Der Literaturnobelpreis ist im freien Fall

Die Krise in der Schwedischen Akademie spitzt sich zum Debakel zu. Nun ist auch die Ständige Sekretärin zurückgetreten. Eine Lösung zeichnet sich nicht ab.

Roman Bucheli
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Die Sekretärin der Schwedischen Akademie, Sara Danius, tritt am 5. Oktober 2017 vor die versammelte Presse, um den Namen des neuen Literaturnobelpreisträgers bekanntzugeben. Der britisch japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro erhielt den Preis. (Bild: Anna Ringstrom / Reuters)

Die Sekretärin der Schwedischen Akademie, Sara Danius, tritt am 5. Oktober 2017 vor die versammelte Presse, um den Namen des neuen Literaturnobelpreisträgers bekanntzugeben. Der britisch japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro erhielt den Preis. (Bild: Anna Ringstrom / Reuters)

Auch eherne Institutionen sind vor dem Untergang nicht gefeit, am wenigsten aber sind sie geschützt vor der Selbstzerstörung. Man kann nicht behaupten, der Literaturnobelpreis stehe vor seiner Abschaffung wegen irreparabler Beschädigung von Ruf und Reputation. Was aber die Schwedische Akademie in diesen Tagen vor aller Augen aufführt, hat durchaus das Zeug, die renommierteste Literaturauszeichnung der Welt ihrer Glaubwürdigkeit zu berauben. Sie befindet sich sozusagen im freien Fall und verliert laufend Mitglieder. Innert Wochenfrist sind von bis dahin noch 16 der ursprünglich 18 Mitglieder fünf weitere aus Protest oder notgedrungen zurückgetreten.

Die Schwedische Akademie ist nicht erst in der Krise, seit ihr Mitglied Katarina Frostenson mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert ist und ihr verhinderter Ausschluss dazu geführt hat, dass mehrere Kolleginnen und Kollegen die Mitgliedschaft aus Protest ruhen lassen. Das Zerwürfnis im Kollegium und dessen Dezimierung machen lediglich ein tiefergehendes Problem manifest: Die Akademie hat sich in ihrer Provinzialität längst überlebt.

Es hätte also keiner Intrigen, keiner Vorwürfe wegen Begünstigung oder sexueller Belästigung, auch keiner Gerüchte über undichte Stellen bedurft. Denn seit es den Literaturnobelpreis gibt, wundert man sich über seltsame Entscheidungen der Akademie. Die Zahl unbedeutender Preisträger überwiegt jene, die mit Fug und Recht für ein herausragendes literarisches Schaffen gewürdigt wurden. Ohnehin bleiben die achtlos (oder auch bewusst) Übergangenen in einer erdrückenden Mehrheit, die den Anspruch des Preises auf ihre Art desavouiert. Seit über hundert Jahren gibt es den Preis, seit ebenso langer Zeit ergiesst sich regelmässig Spott und Häme über die Akademie.

Jährlich wiederholt sich in der ersten Oktoberhälfte das gleiche Ritual: Am ersten oder zweiten Donnerstag des Monats tritt, pünktlich um 13 Uhr, der Sekretär bzw. seit 2015 die Sekretärin der Akademie vor die Presse und annonciert den neuen Preisträger. Manchmal braucht man eine Weile, um den Namen richtig zu deuten, der da gerade mitten in einem Wortschwall auf Schwedisch ausgesprochen worden ist. Gelegentlich sieht man danach auch ratlose Gesichter, weil der glückliche Gewinner (und nur allzu selten: die glückliche Gewinnerin) so überraschend wie unbekannt ist (wenn denn der Preisträger nicht tags zuvor schon anhand der sprunghaft angestiegenen Wettquoten abzulesen gewesen war).

Das Zerwürfnis im Kollegium und dessen Dezimierung machen lediglich ein tiefergehendes Problem manifest: Die Akademie hat sich in ihrer Provinzialität längst überlebt.

Eine Überraschung spricht nicht zwingend gegen die Preisvergabe. Preise sollen den Scheinwerfer auch dorthin lenken, wo nicht ohnehin schon alle hinschauen. Die Schwedische Akademie aber hat in den letzten Jahren auf unterschiedliche Weisen für Verwunderung gesorgt, da sie es mit dem literarischen Gewicht eines Autors nicht immer allzu ernst nahm: von Dario Fo über Günter Grass bis Harold Pinter oder Mo Yan. Nie aber hat sie für grösseres Erstaunen gesorgt als 2016, als sie mit Bob Dylan einen Namen aus dem Hut zauberte, den alle kannten und der seit vielen Jahren auf der ewigen Favoritenliste in den mittleren Rängen figurierte. Am meisten war wohl der Geehrte selbst überrascht. Auch wird er am wenigsten gewusst haben, was davon zu halten sei, dass er allen Lyrikern der Welt und den grossen amerikanischen Autoren von Philip Roth bis Don DeLillo vorgezogen worden war.

Inzwischen hat sich auch der schwedische König Carl Gustav in die Diskussion eingeschaltet. Vielleicht braucht es indessen ein robusteres königliches Eingreifen. Soll die Institution nicht einfach als überflüssiges Relikt ihrer selbst fortbestehen, könnte der Monarch kraft seines Amtes den gordischen Knoten von Satzung und verfahrener Situation zerschlagen und die Akademie auf eine neue und – warum eigentlich nicht? – internationale Grundlage stellen.

Ein solch beherztes Eingreifen dürfte umso dringlicher werden, als nun auch die Ständige Sekretärin Sara Danius zurückgetreten ist und mit ihr die umstrittene Katarina Frostenson. Da die Satzung der Schwedischen Akademie einen ordentlichen Rücktritt nicht vorsieht und eine Neuwahl nur nach dem Tod eines Mitglieds zulässig ist, droht dem Gremium auf Jahre hinaus eine Blockade. Das unwürdige Schauspiel muss darum auf dem schnellsten Weg beendet werden, wenn der Literaturnobelpreis nicht auf Dauer beschädigt werden soll.

Die Akademie scheint dazu selber nicht mehr in der Lage zu sein, da sie sich in fortschreitender Auflösung befindet. Vermutlich kann eine Lösung lediglich noch in einer Flucht nach vorne und also in einem kompletten Neuanfang gefunden werden.

Dieser Kommentar wurde nach dem Rücktritt von Sara Danius aktualisiert.