Die momentan größte Gefahr für den innereuropäischen Zusammenhalt ist nicht das Wohlstandsgefälle, sondern der Druck auf die EU-Außengrenzen.
Das Bonmot, wonach Budgets in Zahlen gegossene Politik sind, ist mittlerweile so abgenutzt, dass es an akuter Materialermüdung leidet und nur mit allergrößter Vorsicht verwendet werden sollte. Der nun vorgestellte mehrjährige Finanzrahmen der Europäischen Union ist aus mindestens zwei Gründen eine Ausnahme von der obigen Regel. Erstens, weil die EU-Kommission mit ihrer gestrigen Präsentation den Startschuss zu einem Marathon des politischen Kuhhandels abgefeuert hat, der bis weit ins nächste Jahr dauern dürfte. Und zweitens, weil in der EU der Haushalt noch stärker Identität stiftet, als dies bei ihren Mitgliedern der Fall ist. Denn die Verwaltung des Binnenmarkts ist die Daseinsberechtigung der Union, die sich ja – anders als Nationalstaaten – nicht als historisch verwurzelte und mythisch verklärte Schicksalsgemeinschaft versteht, sondern als vernunftgeleitetes Projekt der Aufklärung. Wer rationale Politik für rationale Marktteilnehmer machen will, braucht dafür solide Spreadsheets und belastbare Zahlen. So weit, so rational.
Welche Schlüsse lassen sich also aus dem nun vorliegenden Finanzentwurf ziehen? Der erste sich aufdrängende Eindruck ist, dass die Union ganz am Anfang ihres Prozesses der politischen Selbstfindung steht. Seit Jahren weichen die Mitgliedstaaten beharrlich der Frage aus, welche EU sie denn in Zukunft gern hätten – die Grundausstattung oder das Komfortpaket? Der Austritt Großbritanniens im März 2019 erzwingt eine Antwort auf diese Frage, denn der Brexit reißt ein tiefes Loch in den Unionshaushalt. Ob bzw. in welchem Ausmaß dieses Loch gestopft werden soll, hängt von der gewünschten Ausgestaltung der EU nach dem Auslaufen des aktuellen Finanzrahmens im Jahr 2020 ab. Der bevorstehende Streit ums Geld wird eine Weichenstellung herbeiführen.
Daran schließt die zweite Impression an: Die Rahmenbedingungen in und rund um Europa haben sich derart verändert, dass eine Nachjustierung bei den Schwerpunkten der Ausgaben erstens angebracht und zweitens wünschenswert ist. Die größte Gefahr für den Zusammenhalt zwischen den Unionsmitgliedern ist mittlerweile nicht mehr das absolute Wohlstandsgefälle oder ein etwaiger Qualitätsunterschied bei der Verkehrsinfrastruktur, sondern der Druck auf die (südlichen) Außengrenzen der EU. Grenzstaaten wie Griechenland oder Italien zu unterstützen ist das Gebot der kommenden Jahre.
Die Umschichtung im EU-Budget wird wohl auch auf Kosten der Osteuropäer gehen müssen. Die EU sollte sich allerdings davor hüten, diese Operation zu offensiv mit Angelegenheiten der Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen. Denn das würde wie eine – im wahrsten Sinn des Wortes billige – Strafaktion gegen das illiberale Duo Polen/Ungarn wirken. Dieser Hintergedanke dürfte bei der Budgetplanung zwar eine Rolle gespielt haben. Doch es besteht die Gefahr, dass man wegen einer momentanen Irritation – die zugegebenermaßen beachtlich ist – eine Entscheidung trifft, die die Unionspolitik bis zum Ende der 2020er-Jahre bestimmen wird. Was aber, wenn die Nationalpopulisten in Polen bei der nächsten Wahl die Mehrheit verlieren und die neue Regierung die Unabhängigkeit der Gerichte wiederherstellt? Die EU-Gelder werden da bereits verplant sein.
Wer will, dass sich in Warschau die Dinge ändern, sollte dieser Tage nicht nach Brüssel, sondern nach Luxemburg blicken. Der Europäische Gerichtshof wird bald entscheiden, ob ein des Drogenhandels verdächtigter Pole von Irland in seine Heimat ausgeliefert werden darf. Der eigentliche Gegenstand der Rechtssache ist nicht die Person des Verdächtigten selbst, sondern die Frage, ob Polen nach wie vor als Rechtsstaat behandelt werden und als solcher am EU-Binnenmarkt teilnehmen kann. Urteilt der EuGH gegen die Auslieferung, dann hat die Regierung in Warschau nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie macht die Politisierung der Justiz schleunigst rückgängig, oder sie weigert sich – dann wird Polen sukzessive von der Vergabe der EU-Mittel ausgesperrt.
Ein Budget mag zwar in Zahlen gegossene Politik sein, doch der konkrete Werkstoff, aus dem diese Zahlen gegossen werden, ist das Recht.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2018)