Der russische Feiertag zum Sieg im «Grossen Vaterländischen Krieg» war nicht immer geprägt durch waffenstrotzenden patriotischen Pomp. Wo Stalin das Gedenken an das unermessliche menschliche Leid zu verbergen suchte, hat es sich heute im Propagandataumel fast vollständig verflüchtigt.
An diesem 9. Mai feiert Russland den Sieg über Nazideutschland zum 73. Mal. Es ist keines der runden Jubiläen, die gewöhnlich mit immer grösserem Pomp und propagandistischem Getöse begangen werden. Doch in diesem Jahr steht die Feier im Zeichen der Wiederwahl Wladimir Putins als «Siegespräsident», dessen Inauguration am 7. Mai stattgefunden hat und in der diesjährigen Militärparade auf dem Roten Platz ihren Höhepunkt erreichen soll. Damit erhält Putin die höheren Weihen. «Bisher war Putin unser Präsident und konnte ausgetauscht werden», liess die Chefredaktorin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, kurz nach den Wahlen verlautbaren. «Nun ist er unserer Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er ausgewechselt wird.»
In Wahrheit, so argumentiert die Leiterin des analytischen Think-Tanks «R. Politik. Reality of Russian Politics», Tatjana Stanovaya, habe die Sakralisierung des postsowjetischen Russland bereits nach der Annexion der Krim stattgefunden, und Putin sei stillschweigend zum «woschd», zum Führer, gewählt worden. Zuletzt trug Stalin diesen Titel. Insofern habe Putin in den Wahlen vom «Wahlbonus für Krim, Donbass und Syrien, für die Jahre des Widerstandes gegen die westliche Eindämmung, gegen den ungerechten Druck und unzählige Erniedrigungen» profitiert. Der Kreml verstehe sich nunmehr als eine belagerte Festung, und die russische Bevölkerung habe zugleich für eine Verschärfung den Konflikts mit dem Westen gestimmt. Entsprechend soll beim bevorstehenden Krönungsfest Putin als Führer und Russland als unbesiegbare Grossmacht zelebriert werden.
In den vergangenen siebzig Jahren schwankte die offizielle Einstellung zur Siegesfeier je nach den Bedürfnissen der Obrigkeit sowie den ideologischen Richtlinien. 1947 liess Stalin – nur zwei Jahre nach Kriegsende – den 9. Mai zu einem gewöhnlichen Arbeitstag erklären. Er schien das erstarkte Militär und das gewachsene Selbstbewusstsein der Kriegsteilnehmer zu fürchten. Auch sollte die traumatisierte und hungernde Bevölkerung nicht mehr an die vergangenen Leiden und Schrecken erinnert werden.
Die Entwertung und Entweihung sowjetischer Glaubenssätze und Biografien hatte eine schwere Identitätskrise zur Folge.
Doch das Elend liess sich nicht verstecken. Tagtäglich führten es obdachlose Kriegsversehrte zu Abertausenden vor Augen: Krüppel ohne Gliedmassen, die sich auf Holzwägelchen fortbewegten und um eine Brotkruste bettelten. Deshalb schreckte Stalin nicht davor zurück, mit dem Elend der Elenden aufzuräumen. Zu seinem 70. Geburtstag im Dezember 1948 wurden Abertausende, unter ihnen hochdekorierte Helden, über Nacht aus den Städten in die geschlossenen Anstalten etwa auf der Insel Walaam im Ladoga-See deportiert, wo sie wie Aussätzige dahinvegetierten.
Allerdings blieb der Siegestag bis 1965, als Nikita Chruschtschow von Leonid Breschnew abgelöst wurde, ein eher informeller oder privater Gedenktag, an dem Veteranen sich trafen, Wodka tranken, wehmütige Kriegslieder sangen und ihre wahren oder ausgedachten Geschichten erzählten. Ausgerechnet in einer Zeit, da der Staat sich mit der Erinnerungspolitik zurückhielt, entstanden berühmte Klassiker des sowjetischen Films wie «Die Kraniche ziehen» (Michail Kalatosow) und «Die Ballade vom Soldaten» (Grigori Tschuchrai) sowie zahlreiche literarische Werke, die weltweit zur Anerkennung der grossen Opfer und des millionenfachen Leidens der Sowjetbürger beitragen sollten.
Nach der Machtübernahme Leonid Breschnews hat ebendieser Grigori Tschuchrai einen offenen Brief gegen die bevorstehende «indirekte Rehabilitierung Stalins» an das Präsidium des ZK der KPdSU mitunterschrieben. Indes war der Wandel in der offiziellen Erinnerungskultur hin zu einer Umdeutung des bis dahin von der Obrigkeit vernachlässigten Gedenktags – der mehr Trauer- als Siegestag war – nicht mehr zu übersehen.
Die amerikanische Slawistin und Historikerin Nina Tumarkin glaubt, die dieser Entwicklung zugrunde liegende ideologische Wende sei die Reaktion auf eine schleichende Entwertung des Lenin-Kults und der Oktoberrevolution gewesen. Der Gründungsmythos der Sowjetunion mit seinem Versprechen einer lichten Zukunft schien restlos verbraucht zu sein. Vor diesem Hintergrund sollte der Kult des «Grossen Vaterländischen Krieges» die Oktoberrevolution als Legitimationsmythos des Einparteistaats ersetzen.
Ausgerechnet unter Breschnew wurden das Grab des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer mit dem ewigen Feuer und das gigantische Denkmal der Mutter Heimat in Wolgograd errichtet. Zahlreiche in den siebziger Jahren produzierte Monumentalfilme, vor allem die Epopöe nach Breschnews Kriegserinnerungen «Die kleine Erde», bildeten den offiziellen Kanon der Erinnerungskultur, in der die Sakralisierung des «Grossen Vaterländischen Kriegs» festgeschrieben wurde. Propagandistische Narrative vermischten sich mit privaten Erfahrungen und prägten so die kollektive Identität der Sowjetmenschen.
Ebendiesem Selbstverständnis wurde durch die Glasnostpolitik von Michail Gorbatschow, die der Entlarvung der stalinistischen Verbrechen und der Kritik am Sozialismus Tür und Tor öffnete, ein schmerzhafter Schlag versetzt. Die spätere Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zitierte in ihrem Buch «Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder» einen Kriegsveteranen, der aus der Warteschlange für Bier von jungen Leuten verjagt worden war mit dem Vorwurf: «Hättest du bloss nicht gesiegt, dann könnten wir jetzt bayrisches Bier trinken.»
Die Entwertung und Entweihung sowjetischer Glaubenssätze und Biografien hatte eine schwere Identitätskrise zur Folge. Ein weiterer Schlag war der Zerfall der Sowjetunion. Während die ehemaligen Sowjetrepubliken, vor allem die baltischen Staaten, ihre postkoloniale Wiedergeburt durch den Opferstatus und eine antisowjetische Geschichtspolitik zu untermauern suchten, blieb Russland auf seinem entweihten Siegesmythos sitzen. Zwar wurde unter Boris Jelzin ein Versuch unternommen, eine neue nationale Identität zu begründen, doch Russland wollte keine ethnonationale Wiedergeburt gelingen, zumal der erste Tschetschenienkrieg, Ende 1994 vom Zaun gebrochen, mit einer Niederlage endete.
Jede Erinnerung hat ihre Zeit. Zeitzeugen und Teilnehmer, Opfer wie Täter segnen das Zeitliche. Nachfahren leben unter völlig anderen weltpolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Neue Katastrophen und Ängste lassen alte Schrecken verblassen. Deshalb glaubte Hegel nicht an die Lehren aus der Geschichte. Umso einfacher lässt sich jedoch eine historische Tragödie als Instrument der Machtpolitik, der Revanche und der aussenpolitischen Agenda missbrauchen.
Unter Putin wurde die kritische Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin-Pakt, dem Kriegsgeschehen und den Kriegsverbrechen nach und nach unterbunden und zum Teil kriminalisiert. Ins Zentrum der offiziellen Erinnerungskultur rückte der tausendjährige russische Staat mit seinen Siegen, welche alte Feindbilder und neue geopolitische Ansprüche legitimieren sollten. Das Andenken an den Zweiten Weltkrieg hatte immer weniger mit den Veteranen (die meisten lebten gar nicht mehr) und auch nicht mit dem Schmerz über die unfassbare Tragödie zu tun.
Es war nur konsequent, dass die einzige gesellschaftliche Erinnerungsinitiative, die im sibirischen Tomsk unter dem Namen «Das unsterbliche Regiment» angestossen worden war und sich im Nu über das ganze Land verbreitet hatte, sogleich vom Staat vereinnahmt wurde. Bald stellte sich Putin an die Spitzes des Trauerumzugs von Nachfahren der Gefallenen mit deren Porträtbilder. Die meisten in seiner Nähe waren Komparsen mit extra dafür gedruckten Postern vermeintlicher Verwandter, die, gleich nachdem die Kameras ihre Arbeit getan hatten, auf dem Müllhaufen landeten. Mittlerweile werden Staatsangestellte zur Teilnahme am «letzten Regiment» zwangsverpflichtet – wie zu Sowjetzeiten.
Geschickt versteht es Putin, seine aggressive Aussenpolitik in den Erinnerungshorizont des Zweiten Weltkriegs zu stellen. So wurden die russische Invasion auf der Krim und die «Befreiung» des Donbass von «ukrainischen Faschisten» mit Symbolen aus dem Bilder- und Sprachschatz des «Grossen Vaterländischen Krieges» choreografiert. Ein groteskes Beispiel dafür lieferte ein in der Provinzstadt Kaluga zum 70. Jahrestag des Sieges aufgehängtes Banner mit dem Spruch «Heute Krim – morgen Rom», auf dem auch noch eine Reihe weiterer historischer Siege, etwa über den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert und über Napoleon, gefeiert wurden. Über alle Massen prominent tauchte auch dann noch die Schlacht um den Eisenbahnknoten Debalzewe in der Ostukraine im Januar 2015 auf.
Der Siegeskitsch, die Reenactment-Spiele, wie die Erstürmung des nachgebauten Mini-Reichstags im letzten Jahr, oder die häufige Verwechselung sowjetischer und deutscher Waffen wie Soldaten auf den Siegesbannern werden insbesondere in sozialen Netzwerken dem Spott preisgegeben. Dennoch verfehlt die aggressive Siegespropaganda ihre Wirkung nicht. In nahezu jeder Talkshow wird die russische Bevölkerung neu auf den Kampf gegen die nazistische Bedrohung eingeschworen.
Diese wirkt umso bedrohlicher, je unverblümter das Staatsversagen im Land selbst täglich in Erscheinung tritt. Allein im März jagte eine schreckliche Nachricht die andere: der Grossbrand in Kemerowo im Ural sowie die Massenvergiftungen durch Giftgase aus den Mülldeponien um Moskau, die insbesondere Kinder betreffen. Doch an Feiertagen, da soll der Kummer vergessen werden. Moderne Kampfjets werden eine russische Trikolore an den Himmel über den Kreml malen. Und wieder wird der Westen über eine geheime Superwaffe, unsichtbare Troll-Truppen und unheimliche Cyber-Regimenter erschrecken, und es wird der ewige Sieg herrschen, zumindest auf dem Bildschirm.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.