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Meinung Dienst am Gemeinwesen

Ein Pflichtjahr versklavt niemanden – es macht reifer

Redakteur
Ein bisschen Zustimmung – sehr viel Kritik

Die Wehrpflicht ist schon lange ausgesetzt, doch viele Menschen trauern ihr nach, besonders in der Union. Der verpflichtende Dienst junger Menschen in der Bundeswehr oder etwa auch in Pflegeheimen stößt allerdings auf viel Kritik.

Quelle: WELT/ Matthias Heinrich

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Es muss ja nicht Bundeswehr, und „Stillgestanden“ sein. Aber ein Jahr Gemeinnützigkeit ist keine schlechte Schule des Lebens. Ein wie immer gearteter Pflichtdienst kann sich positiv auswirken auf alle Beteiligten.

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Die hastige Aussetzung der Wehrpflicht 2011 war der schwerste gesellschaftliche und damit politische Fehler, den die Union sich in den vergangenen Jahrzehnten geleistet hat; womöglich inklusive der Entscheidungen im Herbst 2015 für die Offenhaltung der Grenzen. Denn diese Knall-auf-Fall-Entscheidung, die Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) damals exekutierte, brachte nicht nur die Bundeswehr an den Rand der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Betrachtung, sondern griff fundamental in die Wahrnehmung des Staates durch seine Bürger ein.

Der Glaube setzte sich durch, es sei kein größeres Engagement mehr erforderlich, die Gesundschrumpfung sei ein übergreifendes Heilmittel. Läuft doch von selbst. Wir leisten uns Profis, die alles besser können. Nicht nur die Bundeswehr. Sondern auch Gesundheitsdienste wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime, Sozialstationen, Behinderteneinrichtungen und viele andere mehr. Wir brauchen die unbedarften und unmotivierten Jünglinge nicht mehr. Heranwachsende sollen die frei werdende Zeit nutzen, um früher eine Ausbildung zu beginnen, zu studieren, um sich alsbald in der funktionierenden Gesellschaft als wertvolle Mitglieder zu erweisen.

Nun muss so ziemlich jeder zugeben, dass diese hehren Ideen schneller vertrocknet sind als ein Blumenstrauß ohne Wasser. Ein großes Bündel an Gründen und Entwicklungen führte erst zum Ansehensverlust der Bundeswehr und bald zu einer nicht für möglich gehaltenen Funktionsunfähigkeit der Streitkräfte. Das Wissen über militärischen Sinn und Nutzen der Bundeswehr ist seit 2011 schwer erodiert; als eine Säule der Gesellschaft gilt die Berufsarmee kaum noch, was sich nicht bloß auf die Soldaten selbst auswirkt, sondern auch die Einsicht in eine grundsätzliche Verteidigungsbereitschaft erschüttert.

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Da, wo bis 2011 Zivildienstleistende halfen, ist es auch nicht gerade besser geworden. Auch bei Gesundheit und Pflege fehlt es offensichtlich an politischer und gesellschaftlicher Unterstützung. Was die beschleunigte Ausbildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeht, ist die Liste der Klagen lang. Die Universitäten sind nicht ganz glücklich über minderjährige Studenten, deren Eltern in den Sprechstunden mitreden wollen. Und die Wissensstände sind oft beschämend, was zugegeben nichts mit der Wehrpflicht zu tun hat.

Was zugleich seit Jahren zunimmt, ist eine Leistungserschöpfung gerade bei Abiturienten, gepaart mit einer Orientierungslosigkeit. Man will sich nach zwölf oder 13 Schuljahren nicht gleich festlegen, wie es weitergehen soll. Oft fehlt es besonders jungen Männern an Ideen. Der diffuse Wille zu Freiheit und Abstand führt dazu, dass enorm viele Schulabgänger aus bürgerlichen Schichten ein oder zwei Jahre lang wenig tun.

Australien und Neuseeland sind zu den bevorzugten Sehnsuchtsländern eines abenteuersatten Teilzeitausstiegs geworden: Herzensbildung am anderen Ende der Welt, möglichst weit weg. Eine sehr kommode Situation. Der Bundesfreiwilligendienst aber, der alternativ zum Zivildienst Angebote bereithalten soll, ist bestenfalls ein mittelprächtiger Erfolg mit hoher Abbrecherquote.

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Deshalb ist es richtig, eine Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht zu führen, die womöglich über die Wehrpflicht hinausgeht, also für junge Frauen wie Männer gilt, was juristisch diffizil ist. Teilhabe am Wesen und der Verfasstheit der Gesellschaft soll und kann die Identifikation stärken, auch die Integration, am Ende sogar die Bildung. Das vielfach wachsende Misstrauen der Bürger in Institutionen des Staates hat etwas mit Distanz zu tun. Ihr, wir. Ein wie immer geartetes Pflichtjahr kann sich positiv auswirken auf alle Beteiligten. Es ist keine völlig unbotmäßige Forderung, wenigstens darüber zu diskutieren, ob sich die jungen Bürger für das Gemeinwohl engagieren sollen.

Die eilig geäußerten Argumente gegen eine allgemeine Dienstpflicht – staatliche Gängelung, zusätzliche Belastung des Arbeitsmarkts, Verschwendung von Lebenszeit, Freiheit des Einzelnen – schieben einen gesellschaftlichen Nutzen locker und recht bedenkenlos beiseite. Es geht nicht darum, bloß billige Kräfte in notorisch unterbesetzten Bereichen zu finden. Das Pochen auf volkswirtschaftliche Funktionsfähigkeit führt am Kern vorbei. Ein Pflichtjahr wäre weit mehr als die Summe der zu verrichtenden Aufgaben und Arbeiten – selbst wenn die Probleme der Bundeswehr im engeren Sinne nicht durch neue Jahrgänge an Wehrpflichtigen zu lösen sind.

Arbeit im sozialen Bereich hält wertvolle Lehren bereit, die jungen Menschen sehr lange von Nutzen sind. Generationen von Zivildienstleistenden wie der Verfasser dieses Textes haben enorm von diesen Lektionen profitiert, sei es, indem Demut und Mitgefühl und das befriedigende Gefühl von Hilfe erfahren wurden, oder sei es, dass der Ansporn für weitere Ausbildungen entstanden ist.

Es wächst etwas, was altmodisch sittliche Reife genannt wird

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Nicht zuletzt wächst bei einem sozialen Engagement neben Selbsterkenntnissen stets etwas, was altmodisch die sittliche Reife genannt wird. Keine schlechte Sache. Selbst bei negativen Erfahrungen in der Bundeswehr- oder Zivildienstzeit sind positive Gedanken dabei herausgekommen: Man wollte dann unbedingt etwas ganz anderes machen. Es gibt für Heranwachsende in Wahrheit nur sehr wenig wirklich vergeudete Zeit.

Manche Argumentation klingt schon, als dürfe man den hoch ausgebildeten Eliten von morgen nicht simple Arbeit im Altenheim zumuten. Umgekehrt wird ein Argument daraus: Indem die angestammte Umgebung verlassen wird, sind Kompromissfähigkeit, Duldsamkeit und das Entwickeln gesellschaftlicher Fertigkeiten möglich. Auch den Kindern wohlständiger Schichten ist es zuzumuten, einmal und für eine begrenzte Zeit Lebenswirklichkeiten außerhalb der Filterblasen kennenzulernen, bevor sie an die Universitäten gehen und dort ihresgleichen treffen.

Ein Pflichtjahr wäre keine Bergwerksschufterei und auch keine Sklavenausbeutung. FDP-Chef Christian Lindner hat die Dienstpflicht ernst und flapsig zugleich „Freiheitsentzug“ genannt und sie damit in die Nähe eines Gefängnisaufenthalts gerückt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt, wie er allerorten erbeten und erträumt wird, hat etwas mit gesellschaftlichem Engagement zu tun, mit Identifikation und Erfahrung, mit durch Erleben gewachsenem Wissen; dieser Kitt ist nicht kostenlos an einer Lottostelle zu haben und kommt auch nicht per Luftpost.

„Arbeit im sozialen Bereich hält wertvolle Lehren bereit“, stellt WELT-Autor Holger Kreitling fest
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Quelle: Claudius Pflug
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