Die EU zieht Kritik auf sich wie ein Magnet. Ob Migration oder Brexit, ob Euro oder Libyen – immer geht alles zu langsam, alles bleibt Stückwerk, alles ist schlampig und anfechtbar. Auch nach dem informellen Gipfel in Salzburg wird das wieder zu hören sein. Die EU? Kriegt nichts geschafft! Vergiss es!

Nur: Das stimmt so nicht. Auch nach dem Treffen in Salzburg lässt sich das nicht behaupten. Die EU schafft vieles – nicht gerade in rasender Geschwindigkeit, aber auch nicht im Schneckentempo. Das gilt auch für eines der Themen, das die Union seit drei Jahren intensiv beschäftigt: Migration. Um es gleich vorweg zu sagen: Eine Lösung für die Migration kann es nicht geben. Es gibt viele kleine Schrauben, an denen man drehen kann, aber nicht den einen Schalter, den man einfach umwerfen könnte. Migration ist ohnehin kein Problem, das grundsätzlich zu lösen ist, sondern ein Phänomen, das zu gestalten und zu bewältigen ist.

Nach dem Jahr 2015 war das wichtigste Ziel der Union, die Zahl der illegalen Migrantinnen und Migranten zu verringern. Das war von existenzieller Bedeutung für den Fortbestand der EU. Drei Jahre später lässt sich sagen: Es ist gelungen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres gab es nach Angaben der europäischen Grenzagentur 73.500 illegale Grenzübertritte in die EU. Das ist ein Bruchteil der Zahlen aus dem Jahr 2015. Der Druck auf Europas Grenzen hat abgenommen, weil die EU auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln daran gearbeitet hat, dass er abnimmt.

Die Wahrnehmung von Afrika hat sich verändert

Die EU hat den Außengrenzschutz über viele Jahre vernachlässigt. Auf dem Salzburger Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs den Plan von Kommissionschef Jean-Claude Juncker ausdrücklich unterstützt, das Personal der europäischen Grenzagentur Frontex auf 10.000 aufzustocken. Das heißt nicht, dass morgen 10.000 Beamte an Europas Grenzen stehen werden. Es ist nicht einmal klar, wie die EU die Aufstockung finanzieren will. Außerdem gibt es heftigen Streit über die Kompetenzen von Frontex. Ungarns Viktor Orbán hat schon mal angekündigt, dass er "Söldner aus Brüssel" nicht akzeptieren wird. Mag sein, dass sich am Ende diese Widerstände nicht überwinden lassen. Doch es wird nicht mehr geschehen, dass die EU ihre Außengrenzen aus reiner Schlafmützigkeit vernachlässigt. Sie arbeitet sich an diesem Thema mühsam ab, aber sie ignoriert es nicht mehr.

Die EU hat in den vergangenen drei Jahren gelernt, dass alles, was in Afrika und im Nahen Osten geschieht, auf direkte Weise nach Europa hineinwirkt. Das ist zwar eine Binsenweisheit. Doch vor 2015 lebten die meisten Europäerinnen und Europäer im Gefühl, dass die Welt da draußen zwar gefährlich und hässlich sein mag, aber auf jeden Fall sehr weit weg ist. Die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs beließen ihre Bürgerinnen und Bürger in diesem Glauben. Sie wurden ja auch gewählt, weil sie ihnen die Welt vom Leib hielten und nicht, weil sie sagten: Wir müssen uns mal dringend um "die da draußen" kümmern.

Das hat sich radikal geändert. Auf dem Gipfel in Salzburg redeten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr viel über Afrika und die künftigen Beziehungen der EU zu diesem Kontinent. Da gibt es noch viel zu tun – und vor allem gilt es, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Aber meistens geht der Änderung der Politik die Änderung der Wahrnehmung voraus. Und die Wahrnehmung von Afrika ist heute eine ganz andere als vor drei Jahren. Es ist von Partnerschaft die Rede, vom Nachbarkontinent. Sicher, das sind Floskeln, aber auch Floskeln können die Tür zu einem utopischen Raum öffnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Worte der Wirklichkeit voraus sind.

Migration sollte nicht mehr das wichtigste Thema sein

Wenig bis nichts ist allerdings in Sachen Verteilung von Flüchtlingen geschehen. Die Visegrádstaaten, allen voran Ungarn, weigern sich nach wie vor, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie ignorieren EU-Ratsbeschlüsse ebenso wie ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Das hat die EU tief gespalten und geschwächt. Orbáns Ungarn wird wahrscheinlich niemals Flüchtlinge aufnehmen.

Trotzdem ist es richtig, dass dieses Thema bei jedem EU-Gipfel, bei dem es um Migration geht, wieder angesprochen wird: "Wie steht es um die Verteilung? Das haben wir ja mal beschlossen!" Auch in Salzburg war das so. Selbst wenn das keine realen Konsequenzen hat, die Idee eines solidarischen Europas wird auf diese Weise verteidigt und hochgehalten. Das ist richtig und wichtig. Schließlich wird es irgendwann auch ein Ungarn ohne Orbán geben.

Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu viel von der EU. Schlimmer noch, wenn ihre hohen Erwartungen nicht erfüllt werden, dann erblinden sie neuerdings vor Wut – und sehen nicht mehr, was die EU alles geschafft hat. Besser werden, das kann und muss es. Ganz klar. Die EU etwa sollte jetzt vor allem endlich das Thema Migration von der Spitze der Agenda nehmen. Es hat nicht mehr die Dringlichkeit wie vor drei Jahren. Besser werden, das gilt aber nicht nur für die EU, das gilt auch für das Volk. Denn das ist auch nicht frei von Fehlern. Es sollte mit etwas mehr Realismus auf seine EU blicken.