Die Entmachtung von Unionsfraktionschef Volker Kauder ist eine Kampfansage der Abgeordneten an die Kanzlerin. Die einstmals mächtigste Frau der Welt kann sich selbst auf die eigenen Leute nicht mehr verlassen. Sie wird gehen müssen.
Später einmal, wenn Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin ist, wird man sich an diesen 25. September 2018 erinnern: als jenen Tag, an dem die Abgeordneten von CDU und CSU der Frau ihre Gefolgschaft aufkündigten und einen der engsten Vertrauten Merkels fallenliessen. Wie viel Zeit zwischen diesem Datum und dem tatsächlichen Ende der Ära Merkel liegen wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber es ist in Sicht.
Dass der unbekannte Finanzfachmann Ralph Brinkhaus seinen Kontrahenten Volker Kauder um den Vorsitz der Unionsfraktion bringen würde, damit hatte in Berlin niemand gerechnet. Noch kurz zuvor hatte Merkels Umfeld gestreut, dass 25 bis 30 Stimmen für den Mann ein Achtungserfolg wären. Allein die Tatsache, dass sich ihr Wunschkandidat Kauder zum ersten Mal nach 13 Jahren einem Gegenkandidaten stellen musste, galt im Kanzleramt als Affront. Wenn es nach Merkel gegangen wäre, dann wäre der Mann, wie üblich, durchmarschiert. Dass das nicht mehr möglich war, ist die erste Schmach. Die zweite ist das Ergebnis. Brinkhaus hat mit 125 von 237 gültigen Stimmen ein Vielfaches der Zustimmung erhalten, die ihm Merkels Leute zugetraut hatten.
Auch die deutschen Medien hatten die Gegenkandidatur eher erstaunt bis belustigt zur Kenntnis genommen. «Herr Brinkhaus probt das Aufständchen», spottete der «Spiegel». Mal schauen, mit welchem Titelbildchen das Magazin diese Woche aufwartet.
Merkel selbst konnte man den Ernst der Lage schon am Dienstagabend ansehen. Am Ausgang der Wahl gebe es nichts zu beschönigen, sagte sie. Ihre Stirn glänzte im Licht der Scheinwerfer. Fragen blieben unbeantwortet.
Auch wenn es schwierig geworden ist, Prognosen abzugeben, ist wohl nicht davon auszugehen, dass Merkel in den nächsten Tagen das tun wird, was FDP-Chef Christian Lindner ihr bereits geraten hat: die Vertrauensfrage im Parlament zu stellen. Dafür sind die Landtagswahlen in Bayern (am 14. Oktober) und in Hessen (zwei Wochen später) zu nah. CSU und CDU stehen nach den monatelangen Querelen und dem unwürdigen Zank um den scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maassen beide geschwächt da. In solch einer Situation wäre überstürztes Handeln töricht. Wer weiss: Vielleicht erholen sich die CSU in Bayern und die CDU in Hessen ja noch einmal von ihren desaströsen Umfragewerten. Wahrscheinlich ist es nicht. Falls die Wahlen so ausgehen, wie es zu erwarten ist, dann wäre die Vertrauensfrage im November tatsächlich der richtige Schritt.
Die Einwände sind bekannt; sie sind personeller Art. Wer soll Merkel denn ersetzen, wird oft gefragt. Die potenziellen Nachfolger – CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer oder Gesundheitsminister Jens Spahn – seien noch nicht so weit, wird gerne ergänzt. Mag sein. Aber Machtwechsel verlaufen selten glatt, da ist die Bundesrepublik keine Ausnahme. Als Gerhard Schröder 2005 nach der Wahlniederlage seiner Partei in Nordrhein-Westfalen die Vertrauensfrage stellte und unterlag, ging er davon aus, die darauffolgende Wahl im Bund zu gewinnen. Selbst nach der Verkündung des Ergebnisses, im Sessel des Fernsehstudios sitzend, konnte er seinen Irrtum noch nicht begreifen. Merkel werde auf keinen Fall regieren, rief er ihr damals höhnisch zu.
Die Frau, die dann doch regierte, hat seither viele Fehler gemacht. Ihre oft als pragmatisch bezeichnete, in Wahrheit aber von der veröffentlichten Meinung mal hierhin, mal dorthin und zu oft nach links getriebene Politik hat eine Partei rechts von der Union gross werden lassen, die sich anschickt, die politische Kultur des Landes nachhaltig zu beschädigen. In den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird im Herbst 2019 gewählt werden. Wenn Merkel ihrer Partei erlaubt, sich vorher von ihr zu emanzipieren und neu zu positionieren, dann könnte die AfD auf ihrem Weg zur Volkspartei noch gestoppt werden. Es wäre ein mächtiges Zeichen der einstmals mächtigsten Frau der Welt.