Kommentar

Das Ende der Ära Merkel ist in Sicht

Die Entmachtung von Unionsfraktionschef Volker Kauder ist eine Kampfansage der Abgeordneten an die Kanzlerin. Die einstmals mächtigste Frau der Welt kann sich selbst auf die eigenen Leute nicht mehr verlassen. Sie wird gehen müssen.

Marc Felix Serrao, Berlin
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Bundeskanzlerin Merkel gesteht ihre Niederlage bei der Abstimmung um den Fraktionsvorsitz ein. (Bild: EPA / Clemens Bilan)

Bundeskanzlerin Merkel gesteht ihre Niederlage bei der Abstimmung um den Fraktionsvorsitz ein. (Bild: EPA / Clemens Bilan)

Später einmal, wenn Angela Merkel nicht mehr Kanzlerin ist, wird man sich an diesen 25. September 2018 erinnern: als jenen Tag, an dem die Abgeordneten von CDU und CSU der Frau ihre Gefolgschaft aufkündigten und einen der engsten Vertrauten Merkels fallenliessen. Wie viel Zeit zwischen diesem Datum und dem tatsächlichen Ende der Ära Merkel liegen wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber es ist in Sicht.

Überraschende Niederlage

Dass der unbekannte Finanzfachmann Ralph Brinkhaus seinen Kontrahenten Volker Kauder um den Vorsitz der Unionsfraktion bringen würde, damit hatte in Berlin niemand gerechnet. Noch kurz zuvor hatte Merkels Umfeld gestreut, dass 25 bis 30 Stimmen für den Mann ein Achtungserfolg wären. Allein die Tatsache, dass sich ihr Wunschkandidat Kauder zum ersten Mal nach 13 Jahren einem Gegenkandidaten stellen musste, galt im Kanzleramt als Affront. Wenn es nach Merkel gegangen wäre, dann wäre der Mann, wie üblich, durchmarschiert. Dass das nicht mehr möglich war, ist die erste Schmach. Die zweite ist das Ergebnis. Brinkhaus hat mit 125 von 237 gültigen Stimmen ein Vielfaches der Zustimmung erhalten, die ihm Merkels Leute zugetraut hatten.

Auch die deutschen Medien hatten die Gegenkandidatur eher erstaunt bis belustigt zur Kenntnis genommen. «Herr Brinkhaus probt das Aufständchen», spottete der «Spiegel». Mal schauen, mit welchem Titelbildchen das Magazin diese Woche aufwartet.

Angela Merkel feiert am 17. Juli 2019 ihren 65. Geburtstag. – Ein Blick zurück auf die Karriere der ersten weiblichen Bundeskanzlerin in Bildern. (Bild: Sean Gallup / Getty)
26 Bilder
Ein Erfolg und sozusagen ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk für die Kanzlerin: Ihre beiden Parteikolleginnen Annegret Kramp-Karrenbauer (l.) und Ursula von der Leyen (M.) realisieren einen Karriereschritt. Letztere wird Präsidentin der Europäischen Kommission, während AKK deren Posten als Verteidigungsministerin übernimmt, 17. Juli. (Bild: Michael Sohn / AP)
Am 7. Dezember 2018 übergibt Angela Merkel den CDU-Vorsitz an Annegret Kramp-Karrenbauer nach deren Wahl im zweiten Wahlgang. (Bild: Carsten Koall / Getty)
Angela Merkel informiert am 29. Oktober 2018 an einer Sonderkonferenz in Berlin, dass sie nicht mehr als CDU-Chefin amtieren will. Ihr Amt als Kanzlerin will sie 2021 abgeben, eine erneute Kandidatur schliesst sie aus. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Juni 2018: Horst Seehofer und Angela Merkel sind sich in Fragen der Asylpolitik uneins. Der Asylstreit weitet sich zu einer ernsthaften Krise in der Regierung aus, und Seehofer kündigt seinen Rücktritt an, er nimmt diesen jedoch später wieder zurück. (Bild: Carsten Koall / Getty)
Am 14. März 2018 wird Angela Merkel bereits zum vierten Mal im Bundestag in Berlin zur Bundeskanzlerin gewählt. Die 63-Jährige erhält 364 von 688 abgegebenen gültigen Stimmen. (Bild: Kai Pfaffenbach / Reuters)
26. Februar 2018: Die CDU hat mit überwältigender Mehrheit für eine neue grosse Koalition gestimmt. Auf dem Parteitag in Berlin votieren nur 27 der knapp 1000 CDU-Delegierten gegen das Regierungsprogramm. Frauenpower für Deutschland: Annegret Kramp-Karrenbauer, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Julia Klöckner (v. l. n. r.). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Am 7. Februar 2018 einigt sich Angela Merkel mit Horst Seehofer (l.) von der CSU und dem SPD-Vorsitzenden Martin Schulz (r.) nach einer langen, durchdiskutierten Nacht auf eine grosse Koalition. Martin Schulz soll das Amt des Aussenministers erhalten. Zwei Tage später verzichtet dieser allerdings nach innerparteilichem Druck darauf. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Merkel geht am 24. September 2017 zwar als Siegerin aus den Wahlen hervor, doch das schlechte Abschneiden der SPD verhindert das Weiterführen einer grossen Koalition. (Bild: Kai Paffenbach / Reuters)
Angela Merkel gehört weltweit zu den einflussreichsten Frauen. Hier debattiert sie mit Christine Lagarde, der Direktorin des Internationalen Währungsfonds, bei einem Finanz- und Wirtschaftstreffen in Berlin, April 2016. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Mit ihrer Haltung zur Flüchtlingsfrage schafft sich Merkel jedoch viele Gegner. Die Willkommenskultur für Flüchtlinge wird in Deutschland zunehmend kritisch betrachtet. Das Bild zeigt die Kanzlerin auf dem Weg zum EU-Türkei-Gipfel in Brüssel, März 2016. (Bild: Francois Lenoir / Reuters)
«Wir schaffen das!» ist zum Leitmotiv der Kanzlerin geworden; diese positive Haltung gegenüber der Flüchtlingsproblematik äussert sie erstmals an einer Medienkonferenz im August 2015. Hier unterhält sie sich mit einer jungen Frau in einem Camp bei Gaziantep in der Türkei, April 2016. (Bild: Umit Bektas / Reuters)
Wo immer möglich versucht Merkel, die Interessen ihres Landes und jene Europas zu vertreten. Am G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Krün, Bayern, unterhält sie sich mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama im Grünen. Der Gipfel stand unter dem Motto «An morgen denken. Gemeinsam handeln». Vereinbart wurde unter anderem, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2050 um 70 % zu reduzieren, 8. Juni 2015. (Bild: Imago)
Merkel, die nüchterne Physikerin, versucht sich gelegentlich auch in Volksnähe. Zum Beispiel bei diesem Besuch bei der deutschen Fussballelf nach dem Sieg gegen Portugal an der WM in Brasilien im Juni 2014. (Bild: Guido Bergmann / Reuters)
Am 17. Dezember 2013 wird Merkel im Bundestag zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt. Bundespräsident Joachim Gauck (r.) gratuliert Angela Merkel im Schloss Bellevue in Berlin zur erfolgreichen Wiederwahl. (Bild: Tim Brakenmeier / EPA)
Angela Merkel mit einem abhörsicheren Mobiltelefon an der Computermesse Cebit. Dass der amerikanische Geheimdienst NSA ihre Gespräche abgehört hat, hat das Verhältnis zum «Freund» jenseits des Atlantiks nachhaltig zerrüttet, 21. Juni 2013. (Bild: Julian Stratenschulte / AP)
Beim Hochwasser in Ostdeutschland ist die Kanzlerin zur Stelle und demonstriert Bürgernähe, 4. Juni 2013. (Bild: Jens-Ulrich Koch / EPA)
Angela Merkel wird am 28. Oktober 2009 erneut als Bundeskanzlerin bestätigt. 323 von 612 Abgeordneten stimmen für sie, 285 votieren mit einem Nein, 4 enthalten sich der Stimme, Oktober 2009. (Bild: Markus Schreiber / AP)
Hahnenkämpfe, Machtpoker, Hinterlist: Auf der politischen Bühne behält Angela Merkel stets den Überblick und setzt sich am Ende meist durch. Mit Nicolas Sarkozy am EU-Gipfel im März 2008. (Bild: Jock Fistick / AP)
Als gewiefte Politikerin wird Merkel mit beinahe jedem Gegenüber fertig. Hier ist sie zu Gast bei Wladimir Putin in seiner Residenz am Schwarzen Meer bei Sotschi. Der russische Präsident hat seinen Hund Koni dabei. Tapfer überwindet sie ihre Hundephobie und lässt sich nichts anmerken, Juni 2007. (Bild: Mikhail Metzel / AP)
Am 22. November 2005 wählt die grosse Koalition aus Christlichdemokraten und Sozialdemokraten Angela Merkel zur Kanzlerin. Sie ist die erste Frau im Kanzleramt. (Bild: Fritz Reiss / AP)
Im Jahr 2000 wird Merkel zur neuen Führungsfigur der CDU gewählt. Das Bild zeigt sie am Parteikongress in Essen. Es ist ein Glanzresultat: Sie erhält 95,94 Prozent der 935 Delegiertenstimmen, April 2000. (Bild: Michael Jung / Keystone)
1999 erschüttert die Parteispendenaffäre die CDU. Angela Merkel ist Generalsekretärin der Partei, Wolfgang Schäuble (r.) der Präsident. Nach einer Präsidiumssitzung wird Merkel klar, dass sie zum Wohle der Partei mit dem langjährigen Kanzler und CDU-Ehrenpräsidenten Kohl brechen muss. (Bild: Imago)
Merkels grosser Förderer ist der «Einheitskanzler» Helmut Kohl. Die Physikerin wird seine ostdeutsche Vorzeigefrau, 15. Dezember 1991. (Bild: Imago)
Offizielles Porträt von Angela Merkel, damals Bundesministerin für Frauen und Jugend (1991 bis 1994), aufgenommen in Bonn, Januar 1991. (Bild: Lothar Schaack / Keystone)
Am 17. Juli 1954 wird Angela Merkel in Hamburg geboren. Noch im selben Jahr siedelt die Familie in die DDR über, wo Merkels Vater als evangelischer Pfarrer tätig ist. Das Bild zeigt Merkel als Frauenministerin während einer Kabinettssitzung in Bonn im Dezember 1991. (Bild: Imago)

Angela Merkel feiert am 17. Juli 2019 ihren 65. Geburtstag. – Ein Blick zurück auf die Karriere der ersten weiblichen Bundeskanzlerin in Bildern. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Merkel selbst konnte man den Ernst der Lage schon am Dienstagabend ansehen. Am Ausgang der Wahl gebe es nichts zu beschönigen, sagte sie. Ihre Stirn glänzte im Licht der Scheinwerfer. Fragen blieben unbeantwortet.

Vertrauensfrage im November?

Auch wenn es schwierig geworden ist, Prognosen abzugeben, ist wohl nicht davon auszugehen, dass Merkel in den nächsten Tagen das tun wird, was FDP-Chef Christian Lindner ihr bereits geraten hat: die Vertrauensfrage im Parlament zu stellen. Dafür sind die Landtagswahlen in Bayern (am 14. Oktober) und in Hessen (zwei Wochen später) zu nah. CSU und CDU stehen nach den monatelangen Querelen und dem unwürdigen Zank um den scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maassen beide geschwächt da. In solch einer Situation wäre überstürztes Handeln töricht. Wer weiss: Vielleicht erholen sich die CSU in Bayern und die CDU in Hessen ja noch einmal von ihren desaströsen Umfragewerten. Wahrscheinlich ist es nicht. Falls die Wahlen so ausgehen, wie es zu erwarten ist, dann wäre die Vertrauensfrage im November tatsächlich der richtige Schritt.

Die Einwände sind bekannt; sie sind personeller Art. Wer soll Merkel denn ersetzen, wird oft gefragt. Die potenziellen Nachfolger – CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer oder Gesundheitsminister Jens Spahn – seien noch nicht so weit, wird gerne ergänzt. Mag sein. Aber Machtwechsel verlaufen selten glatt, da ist die Bundesrepublik keine Ausnahme. Als Gerhard Schröder 2005 nach der Wahlniederlage seiner Partei in Nordrhein-Westfalen die Vertrauensfrage stellte und unterlag, ging er davon aus, die darauffolgende Wahl im Bund zu gewinnen. Selbst nach der Verkündung des Ergebnisses, im Sessel des Fernsehstudios sitzend, konnte er seinen Irrtum noch nicht begreifen. Merkel werde auf keinen Fall regieren, rief er ihr damals höhnisch zu.

Die Frau, die dann doch regierte, hat seither viele Fehler gemacht. Ihre oft als pragmatisch bezeichnete, in Wahrheit aber von der veröffentlichten Meinung mal hierhin, mal dorthin und zu oft nach links getriebene Politik hat eine Partei rechts von der Union gross werden lassen, die sich anschickt, die politische Kultur des Landes nachhaltig zu beschädigen. In den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird im Herbst 2019 gewählt werden. Wenn Merkel ihrer Partei erlaubt, sich vorher von ihr zu emanzipieren und neu zu positionieren, dann könnte die AfD auf ihrem Weg zur Volkspartei noch gestoppt werden. Es wäre ein mächtiges Zeichen der einstmals mächtigsten Frau der Welt.