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Kardinal Reinhard Marx und der Trierer Bischof Stephan Ackermann bei der Vorstellung der Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche.

© Daniel ROLAND / AFP

Missbrauch in der Kirche: Wer nicht entschieden handelt, versündigt sich

Missbrauch aufklären, Täter verurteilen – die Kirchen müssen dafür ihre Archive öffnen. Gerechtigkeit ist der Maßstab. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Ein Mea Culpa reicht nicht. Das Schuldeingeständnis kann nur der Anfang sein. Denn es ist, wie die Justizministerin sagt: Der Rechtsstaat muss, damit er funktioniert, jetzt verlangen, dass die Kirche alles gegen Missbrauch unternimmt. Bloß zu sagen: „Es tut uns leid“, ist eher Hohn als Trost. Wer nicht entschieden handelt, versündigt sich. Das gilt für alle Geistlichen, bis hin zum Papst.

Was zu tun ist: Das Leid der Opfer muss dokumentiert, die Verbrechen müssen aufgeklärt und die Täter zur Verantwortung gezogen werden. Das ist bisher nicht geschehen. Noch eine Schande.

Kardinal Reinhard Marx spricht von einem Wendepunkt in der Geschichte seiner Kirche. Ja, das muss ihm ernst sein – und er als Vorsitzender der Bischofskonferenz muss Ernst machen. Indem endlich ernsthaft über eine jahrtausendealte Machtstruktur und Sexualmoral gesprochen wird; indem endlich Schweigekartelle durchbrochen werden; indem endlich alles durchleuchtet und infrage gestellt wird: die Gemeinde- und Seelsorgearbeit, das Beichtgeheimnis – das die Weitergabe von Hinweisen verhindert hat –, der Zölibat.

Geredet werden muss über Intransparenz, Hierarchie, Erniedrigung. Und zwar im Angesicht der Opfer. „Entschädigung“, die angemahnt wird, ist nötig, aber nie vollends möglich. Den Schaden an Abertausenden Seelen kann niemand heilen. Auch nicht mit Geld.

Gerechtigkeit ist der Maßstab. Die Kirche muss dafür ihre Archive öffnen, in den Bistümern wie in den Orden, überhaupt in allen Institutionen kirchlicher Trägerschaft wie Internaten, Schulen oder Heimen. Und dann hinein in die Archive des Vatikan, der ja Bescheid wissen muss über alle Missbrauchsfälle.

Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein

Die Studie für die Bischofskonferenz spricht von knapp 3677 Opfern seit 1946 – das sind nur die jetzt öffentlich benannten. Eine andere Studie im Auftrag des Kompetenzzentrums für Kinderschutz in Ulm hat ergeben, dass bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland im Alter ab 14 Jahren mit etwa 200.000 Opfern von Geistlichen beider Konfessionen gerechnet werden muss. Was bedeutet: Die katholische Kirche ist mit dem Aufklärungsauftrag nicht allein, auch die evangelische muss sich Rechenschaft ablegen. Und zwar in aller Öffentlichkeit.

Wie auch die Täter von der Öffentlichkeit zur Verantwortung gezogen werden müssen, weil nur das exemplarisch für die Gesellschaft sein kann. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist, da hat dann die Familienministerin recht, ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: Auf der Grundlage einer Stichprobe von fast 2500 Personen hat sich gezeigt, dass bezogen auf die aktuelle Bevölkerung mindestens 1,6 Millionen Frauen und 260.000 Männer Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Über die Kirchen hinaus, im Sport und anderswo. Das ist die Dimension. Und das sind die Folgen: Werden Normen, Regeln und Menschenwürde missachtet, zersetzt das die Gesellschaft.

Das darf keine Kirche zulassen. Schon gar nicht eine, die sagt: Deus caritas est, Gott ist Liebe.

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