Der türkische Präsident Erdogan kümmert sich intensiv um die im Ausland lebenden Landsleute. Seine Fürsorge dient jedoch primär der kulturellen Entfremdung von deren neuen Heimatländern – und schadet dem wirtschaftlichen und sozialen Vorankommen der Auslandtürken.
Als der türkische Präsident Erdogan am Donnerstag in Berlin gelandet war, eilte er als Erstes in das Nobelhotel Adlon beim Brandenburger Tor. Dort begrüsste er ausgewählte Mitglieder der türkischen Gemeinde in Deutschland, bevor am Freitag das offizielle Programm des Staatsempfangs mit militärischen Ehren und Begegnungen mit Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier beginnen wird.
Dass Erdogan in Deutschland zuerst mit Landsleuten zusammenkam, ist kein Nebenaspekt seiner Reise. Ausgewanderte Türken und deren Nachfahren betrachtet der türkische Staatschef als seine eigenen Landsleute und keineswegs als Deutsche, Briten oder Franzosen, selbst wenn sie nicht einmal über einen türkischen Pass verfügen. Die Pflege der Beziehung zu den Millionen als Gastarbeiter nach Europa ausgewanderten Türken und ihren Kindern gehört zu den Konstanten von Erdogans Aussenpolitik.
Dafür investiert er viel: Die über lokale Vereine von der türkischen Religionsbehörde gesteuerten und finanzierten Moscheen sollen das Seelenheil der Ausgewanderten mit der Heimat verknüpfen. Im Jahr 2010 gründete Erdogan eigens ein Ministerium für Auslandtürken, das die Verbindungen zu den im Ausland lebenden Landsleuten pflegt, etwa durch organisierte Reisen in die Türkei sowie durch Informationsangebote.
Über Moscheen, Vereine, Internetforen und die Sendungen des staatlichen türkischen Fernsehens wird gezielt politisch und kulturell Einfluss genommen auf die im Ausland lebenden türkischstämmigen Bürger. Während die Pflege der kulturellen Bande zur Heimat der Vorväter bereichernd wirken kann, kann eine starke Bindung an das Ursprungsland gleichzeitig die Integration in die neue Heimat behindern. Genau das ist das Ziel von Erdogans Aussenpolitik. Die Auslandtürken sollen sich nicht mit ihrem neuen Zuhause identifizieren, sondern mit dem Land und der Kultur ihrer Eltern und Grosseltern. Diese Haltung treibt gezielt einen Keil zwischen die türkischen Bürger in Europa und die Gesellschaft, in der sie leben.
Die Folgen dieser von Erdogan gewollten und aktiv betriebenen Entfremdung sind gravierend – in erster Linie für die im Ausland lebenden Türken selbst. Keine Bevölkerungsgruppe in Deutschland ist wirtschaftlich und sozial so schlecht gestellt wie die türkischstämmige. Dass Menschen mit Migrationshintergrund bei sozialen Indikatoren wie Armut, Einkommen, Ausbildung, sozialem Aufstieg im Durchschnitt schlechter abschneiden als Bürger mit deutschen Wurzeln, ist normal. Sie hatten im Durchschnitt schwierigere Ausgangsbedingungen, um wirtschaftlich voranzukommen. Bei den Türken sind die Unterschiede allerdings extrem – obschon die meisten schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder dort geboren wurden.
Gemäss dem Datenreport des Statistischen Bundesamts und der Bundeszentrale für politische Bildung ist das Armutsrisiko von in Deutschland lebenden Türken mehr als 50 Prozent höher als bei allen Menschen mit Migrationshintergrund. Auch noch die Türken in der zweiten oder dritten Generation weisen die geringsten Einkommen, eine 30 Prozent tiefere Abiturientenquote und eine 60 Prozent tiefere Akademikerquote aus als alle Bürger mit Migrationshintergrund.
Zu behaupten, dies sei alles auf Rassismus und fehlende Aufnahmebereitschaft in Deutschland zurückzuführen, greift zu kurz. Warum sind dann etwa Osteuropäer oder Spätaussiedler viel erfolgreicher? Das beste Mittel für sozialen Aufstieg ist die Anpassung und Integration in die bestehenden Ausbildungssysteme und den Arbeitsmarkt. Wer stattdessen mehr an den Sitten und Gebräuchen eines fernen Herkunftslandes hängt, ist rasch einmal im selbst verschuldeten Nachteil.