Außer Brexit nichts zu bieten – Seite 1

Auf dem Parteitag der britischen Konservativen schwingen sie Reden über das "globale Britannien" oder "Chancen für die nächsten Generationen", über "eine Wirtschaft, die jedem etwas bringt". Doch eigentlich geht es bei den Tories seit Sonntag nur um eine einzige Frage: Wer gewinnt im Streit um den Brexit – Theresa May oder ihre Widersacher, allen voran Boris Johnson?

Premierministerin May hält trotz des Widerstands aus den eigenen Reihen und einer Abfuhr der EU-Regierungschefs an ihrem Verhandlungsvorschlag für den Brexit fest. Der kürzlich vom Amt des Außenministers zurückgetretene Johnson aber nutzt den Parteitag, um die Brexit-Verhandlungen von May zu konterkarieren. So will er sich als möglicher künftiger Premier in Stellung bringen. Es ist ein Trauerspiel. Der Streit um den Brexit dominiert die Politik der Konservativen und er lähmt die Partei.

Das ist gefährlich, denn die Konkurrenz von Labour ist bereits einen Schritt weiter. Dort haben sich Oppositionsführer Jeremy Corbyn und sein finanzpolitischer Sprecher John McDonnell mit den klassischen Lösungsansätzen der Sozialisten durchgesetzt: mehr Staat und Umverteilung. Je länger die Tories über den Brexit streiten und dabei nicht in der Lage sind, schlüssige Antworten auf die gesellschaftlichen Missstände zu geben, desto leichter hat es Corbyn.

Brexit statt Lösungen für echte Probleme

Die gesellschaftlichen Brüche gehen tief. Doch als das Land zur Zeit von Tony Blair die Kraft gehabt hätte, sie zu bekämpfen – in den Neunzigerjahren bis zur Finanzkrise –, wurden sie nicht ernst genommen. Der stärkste und längste Wirtschaftsaufschwung seit dem Zweiten Weltkrieg blendete die britischen Politiker so sehr, dass sie nicht erkannten, wie das Land auseinanderbrach. Im Süden entstand Wohlstand, im Norden entstand wenig. Die politischen Versäumnisse rächten sich nach der Finanzkrise und der Rezession. Denn mit dem Sparen stieg der Druck auf die ärmere Bevölkerung erst recht.

Die Tories hätten darauf Antworten finden müssen. Stattdessen präsentierte das erzkonservative Lager der Partei einen Austritt aus der EU als Lösung – und David Cameron, die Partei selbst und 51,9 Prozent der abstimmenden Briten fielen darauf herein.

Sollte es in den nächsten Monaten nicht zu einer zweiten Volksabstimmung kommen, die den Brexit stoppen könnte, wird Großbritannien Ende März 2019 aus der EU austreten. Auf Dauer dürften die Briten erkennen, dass der Austritt an den grundlegenden Problemen Großbritanniens nichts ändern wird. Im Gegenteil. Es wird dann höchstwahrscheinlich weniger Unternehmen geben, die in Großbritannien investieren und junge Leute ausbilden werden. Forschung, Dienstleistung, Fin-Techs, Biotechnologie und weitere Branchen, von denen die Brexit-Anhänger träumen, werden wieder nur dem Süden des Landes helfen, weniger dem Norden. Die Wirtschaft wird schwächeln, die Steuereinnahmen werden sinken, Spielraum für eine bessere Infrastruktur im Norden wird erneut fehlen.

Durchsichtige Versprechen, dürftige Antworten

Wo also sind die Antworten der Konservativen Partei? Boris Johnson will an die Macht, weil er – so sagte er am Wochenende – mit Brüssel einen besseren Brexit aushandeln könne. Denn schließlich habe er, anders als Theresa May, dafür geworben, habe dafür gekämpft, sei vom Brexit überzeugt. Und dann fügte er hinzu, dass der Norden Englands eine Hochgeschwindigkeitstrasse brauche, die Ost und West miteinander verbinde. Das stimmt sogar. Aber es ist in dieser Form ein sehr durchsichtiges Wahlversprechen.

Theresa May fällt auch etwas ein: Sie will, dass das Obdachlosenproblem im Land gelöst wird. Zahlen sollen dafür die reichen Ausländer, die beim Immobilienkauf künftig mit einer extrahohen Stempelsteuer zur Kasse gebeten werden. Und ein Festival für das stolze Großbritannien soll es vier Monate vor der nächsten Wahl im Jahr 2022 geben – so wie die Weltausstellung 1851 zu Königin Victorias Zeiten. 

Hoffnungsloser Parteitag

Labour bietet derweil Antworten. Es sind nicht unbedingt die richtigen, aber das Labour-Programm ist leicht zu verstehen. Das Mantra von Corbyn, die Reichen sollten für die Armen zahlen, ist populär. Dass der Staat inkompetente Privatunternehmen übernehmen solle, klingt auch einleuchtend. Dass die Arbeiter mit Aktien und Dividenden am Erfolg der "reichen Konzerne" teilhaben sollen, kommt ebenfalls gut an. Mittlerweile denkt Labour sogar über eine Vier-Tage-Woche nach, die freilich voll entlohnt werden soll.

Der Parteitag der Konservativen müsste mit einer Alternative aufwarten. Aber stattdessen wird die Partei dominiert von einer Premierministerin, die mit dem Brexit überfordert ist und für ernsthafte Reformen keinen Gedanken frei hat. Von Boris Johnson, der Churchill spielt, aber keine Antworten auf die Herausforderungen des Landes formuliert, und Jacob Rees-Mogg, der 80 hartgesottene Brexit-Anhänger hinter sich weiß, aber bereits scheiterte, als er einen Brexit-Vorschlag präsentieren sollte, der eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland vermieden hätte.

Von den Hardlinern werden all jene an die Seite gedrängt, die die Partei reformieren könnten: junge Köpfe, aufsteigende Politiker wie die schottische Parteivorsitzende Ruth Davidson, der neue Innenminister Sajid Javid, die frühere Innenministerin Amber Rudd, der jetzige Außenminister Jeremy Hunt.

Die Partei braucht junge, neue Ideen. Seit David Cameron ist die Zahl der Mitglieder in der Partei innerhalb weniger Jahre von 177.000 auf 124.000 gesunken, teilte Parteichef Brandon Lewis im Frühjahr mit, Labour hat 540.000 Mitglieder. Mehr als 40 Prozent der Parteimitglieder der Tories sind älter als 65 Jahre. Ihnen gefällt Boris Johnson. Aber ihre Generation stirbt aus. Es ist die Generation, die glaubt, sie brauche im heutigen Handel und Wandel mit anderen Nationen keine gleichwertigen Kompromisse einzugehen, und die bereit ist, eine ökonomisch sinnvolle Mitgliedschaft in der EU zu opfern. Ihnen gibt die Regierung den Brexit – und einen Parteitag, der keine Alternativen bietet.