Kommentar

Das Ende der Ära Merkel ist schleichend, denn alle bleiben an sie gebunden

In Bayern haben CSU und SPD gewaltige Verluste eingefahren und damit für ihre Teilnahme an der ungeliebten Koalition in Berlin bezahlt. Noch aber können sich die Regierungsparteien nicht von der Kanzlerin lösen.

Benedict Neff, Berlin
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Bundeskanzlerin Merkels Asylpolitik ist zur Hypothek für die CDU geworden. Sie hat die AfD erst gross gemacht, auch wenn das viele in Merkels Partei nicht wahrhaben wollen. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuters)

Bundeskanzlerin Merkels Asylpolitik ist zur Hypothek für die CDU geworden. Sie hat die AfD erst gross gemacht, auch wenn das viele in Merkels Partei nicht wahrhaben wollen. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuters)

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist eine pflichtbewusste Frau. Vermutlich ist sie auch im Amt geblieben, weil sie in einer Welt voller Veränderungen wenigstens in Deutschland für Stabilität und Ordnung sorgen wollte. Die Führung der freien Welt kann man nicht so einfach abgeben. In ihrer vierten Legislatur ist sie aber längst selbst zum Unsicherheitsfaktor geworden.

Wahlen – wie jetzt in Bayern – gehen für die Unionsparteien verloren. In Merkels eigener Partei wächst die Opposition. Gegen den Willen der Kanzlerin wurde Ralph Brinkhaus zum CDU-Fraktionschef gewählt. Es war ein demokratisches Aufbegehren gegen Merkel, die Fraktionsmitglieder wollen endlich mitreden und Politik nicht mehr nur abnicken. Merkels Asylpolitik ist zur Hypothek für die Partei geworden.

Sie hat die AfD erst gross gemacht, auch wenn das viele in der CDU nicht wahrhaben wollen. Gerade dieser Starrsinn ist Teil des Problems. Den CDU-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen fällt nach der Wahl in Bayern nichts Besseres ein, als die CSU für ihre Streitlust zu kritisieren. Sie glauben, allein schlechte Stilnoten hätten die CSU die Stimmen gekostet. Dabei war es auch die Asylpolitik der Bundesregierung, die massgeblichen Anteil am Scheitern hat.

Es ist eine merkwürdige Zeit in Berlin. Eine Regierung hat erst gerade angefangen zu regieren, aber niemand scheint noch eine Erwartung in sie zu haben; auch wenn sie wahrscheinlich noch bis 2021 weiter funktionieren wird. Es findet das schleichende Ende der Ära Merkel statt. In Bayern haben die CSU und die SPD gewaltige Verluste eingefahren, obwohl die beiden Parteien im Landtag komplett verschiedene Rollen hatten. Die CSU führte eine Alleinregierung, die SPD war Oppositionsführerin – was die beiden eint, ist ihre Regierungsarbeit in Berlin.

Angela Merkel feiert am 17. Juli 2019 ihren 65. Geburtstag. – Ein Blick zurück auf die Karriere der ersten weiblichen Bundeskanzlerin in Bildern. (Bild: Sean Gallup / Getty)
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Ein Erfolg und sozusagen ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk für die Kanzlerin: Ihre beiden Parteikolleginnen Annegret Kramp-Karrenbauer (l.) und Ursula von der Leyen (M.) realisieren einen Karriereschritt. Letztere wird Präsidentin der Europäischen Kommission, während AKK deren Posten als Verteidigungsministerin übernimmt, 17. Juli. (Bild: Michael Sohn / AP)
Am 7. Dezember 2018 übergibt Angela Merkel den CDU-Vorsitz an Annegret Kramp-Karrenbauer nach deren Wahl im zweiten Wahlgang. (Bild: Carsten Koall / Getty)
Angela Merkel informiert am 29. Oktober 2018 an einer Sonderkonferenz in Berlin, dass sie nicht mehr als CDU-Chefin amtieren will. Ihr Amt als Kanzlerin will sie 2021 abgeben, eine erneute Kandidatur schliesst sie aus. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Juni 2018: Horst Seehofer und Angela Merkel sind sich in Fragen der Asylpolitik uneins. Der Asylstreit weitet sich zu einer ernsthaften Krise in der Regierung aus, und Seehofer kündigt seinen Rücktritt an, er nimmt diesen jedoch später wieder zurück. (Bild: Carsten Koall / Getty)
Am 14. März 2018 wird Angela Merkel bereits zum vierten Mal im Bundestag in Berlin zur Bundeskanzlerin gewählt. Die 63-Jährige erhält 364 von 688 abgegebenen gültigen Stimmen. (Bild: Kai Pfaffenbach / Reuters)
26. Februar 2018: Die CDU hat mit überwältigender Mehrheit für eine neue grosse Koalition gestimmt. Auf dem Parteitag in Berlin votieren nur 27 der knapp 1000 CDU-Delegierten gegen das Regierungsprogramm. Frauenpower für Deutschland: Annegret Kramp-Karrenbauer, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Julia Klöckner (v. l. n. r.). (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Am 7. Februar 2018 einigt sich Angela Merkel mit Horst Seehofer (l.) von der CSU und dem SPD-Vorsitzenden Martin Schulz (r.) nach einer langen, durchdiskutierten Nacht auf eine grosse Koalition. Martin Schulz soll das Amt des Aussenministers erhalten. Zwei Tage später verzichtet dieser allerdings nach innerparteilichem Druck darauf. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Merkel geht am 24. September 2017 zwar als Siegerin aus den Wahlen hervor, doch das schlechte Abschneiden der SPD verhindert das Weiterführen einer grossen Koalition. (Bild: Kai Paffenbach / Reuters)
Angela Merkel gehört weltweit zu den einflussreichsten Frauen. Hier debattiert sie mit Christine Lagarde, der Direktorin des Internationalen Währungsfonds, bei einem Finanz- und Wirtschaftstreffen in Berlin, April 2016. (Bild: Hannibal Hanschke / Reuters)
Mit ihrer Haltung zur Flüchtlingsfrage schafft sich Merkel jedoch viele Gegner. Die Willkommenskultur für Flüchtlinge wird in Deutschland zunehmend kritisch betrachtet. Das Bild zeigt die Kanzlerin auf dem Weg zum EU-Türkei-Gipfel in Brüssel, März 2016. (Bild: Francois Lenoir / Reuters)
«Wir schaffen das!» ist zum Leitmotiv der Kanzlerin geworden; diese positive Haltung gegenüber der Flüchtlingsproblematik äussert sie erstmals an einer Medienkonferenz im August 2015. Hier unterhält sie sich mit einer jungen Frau in einem Camp bei Gaziantep in der Türkei, April 2016. (Bild: Umit Bektas / Reuters)
Wo immer möglich versucht Merkel, die Interessen ihres Landes und jene Europas zu vertreten. Am G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Krün, Bayern, unterhält sie sich mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama im Grünen. Der Gipfel stand unter dem Motto «An morgen denken. Gemeinsam handeln». Vereinbart wurde unter anderem, die weltweiten Treibhausgasemissionen bis 2050 um 70 % zu reduzieren, 8. Juni 2015. (Bild: Imago)
Merkel, die nüchterne Physikerin, versucht sich gelegentlich auch in Volksnähe. Zum Beispiel bei diesem Besuch bei der deutschen Fussballelf nach dem Sieg gegen Portugal an der WM in Brasilien im Juni 2014. (Bild: Guido Bergmann / Reuters)
Am 17. Dezember 2013 wird Merkel im Bundestag zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt. Bundespräsident Joachim Gauck (r.) gratuliert Angela Merkel im Schloss Bellevue in Berlin zur erfolgreichen Wiederwahl. (Bild: Tim Brakenmeier / EPA)
Angela Merkel mit einem abhörsicheren Mobiltelefon an der Computermesse Cebit. Dass der amerikanische Geheimdienst NSA ihre Gespräche abgehört hat, hat das Verhältnis zum «Freund» jenseits des Atlantiks nachhaltig zerrüttet, 21. Juni 2013. (Bild: Julian Stratenschulte / AP)
Beim Hochwasser in Ostdeutschland ist die Kanzlerin zur Stelle und demonstriert Bürgernähe, 4. Juni 2013. (Bild: Jens-Ulrich Koch / EPA)
Angela Merkel wird am 28. Oktober 2009 erneut als Bundeskanzlerin bestätigt. 323 von 612 Abgeordneten stimmen für sie, 285 votieren mit einem Nein, 4 enthalten sich der Stimme, Oktober 2009. (Bild: Markus Schreiber / AP)
Hahnenkämpfe, Machtpoker, Hinterlist: Auf der politischen Bühne behält Angela Merkel stets den Überblick und setzt sich am Ende meist durch. Mit Nicolas Sarkozy am EU-Gipfel im März 2008. (Bild: Jock Fistick / AP)
Als gewiefte Politikerin wird Merkel mit beinahe jedem Gegenüber fertig. Hier ist sie zu Gast bei Wladimir Putin in seiner Residenz am Schwarzen Meer bei Sotschi. Der russische Präsident hat seinen Hund Koni dabei. Tapfer überwindet sie ihre Hundephobie und lässt sich nichts anmerken, Juni 2007. (Bild: Mikhail Metzel / AP)
Am 22. November 2005 wählt die grosse Koalition aus Christlichdemokraten und Sozialdemokraten Angela Merkel zur Kanzlerin. Sie ist die erste Frau im Kanzleramt. (Bild: Fritz Reiss / AP)
Im Jahr 2000 wird Merkel zur neuen Führungsfigur der CDU gewählt. Das Bild zeigt sie am Parteikongress in Essen. Es ist ein Glanzresultat: Sie erhält 95,94 Prozent der 935 Delegiertenstimmen, April 2000. (Bild: Michael Jung / Keystone)
1999 erschüttert die Parteispendenaffäre die CDU. Angela Merkel ist Generalsekretärin der Partei, Wolfgang Schäuble (r.) der Präsident. Nach einer Präsidiumssitzung wird Merkel klar, dass sie zum Wohle der Partei mit dem langjährigen Kanzler und CDU-Ehrenpräsidenten Kohl brechen muss. (Bild: Imago)
Merkels grosser Förderer ist der «Einheitskanzler» Helmut Kohl. Die Physikerin wird seine ostdeutsche Vorzeigefrau, 15. Dezember 1991. (Bild: Imago)
Offizielles Porträt von Angela Merkel, damals Bundesministerin für Frauen und Jugend (1991 bis 1994), aufgenommen in Bonn, Januar 1991. (Bild: Lothar Schaack / Keystone)
Am 17. Juli 1954 wird Angela Merkel in Hamburg geboren. Noch im selben Jahr siedelt die Familie in die DDR über, wo Merkels Vater als evangelischer Pfarrer tätig ist. Das Bild zeigt Merkel als Frauenministerin während einer Kabinettssitzung in Bonn im Dezember 1991. (Bild: Imago)

Angela Merkel feiert am 17. Juli 2019 ihren 65. Geburtstag. – Ein Blick zurück auf die Karriere der ersten weiblichen Bundeskanzlerin in Bildern. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Obwohl die Grosse Koalition für sämtliche beteiligten Parteien eine zerstörerische Wirkung hat, scheint bei allen die Angst vor einer Auflösung riesenhaft zu sein, und dies zu Recht. CDU- und CSU-Politiker, die mit dem Gedanken spielen, Merkel zu entmachten, müssen bedenken, dass die Sozialdemokraten eine Auswechslung der Bundeskanzlerin, durch wen auch immer, nicht akzeptieren würden. Merkel als Regierungschefin ist überhaupt die Bedingung, dass sich die SPD an der Koalition beteiligt. Würde sie unter Druck frühzeitig demissionieren, böte dies den Sozialdemokraten die Möglichkeit, diese ungeliebte Koalition zu verlassen und sich in der Opposition zu regenerieren, wie es gerne heisst. Ob diese Regeneration gelingen würde, ist natürlich keineswegs garantiert.

Die Unionsparteien würden von einem solchen dreisten Vorgehen gegen die Kanzlerin aber sicher nicht profitieren. Im Gegenteil dürften die Anti-Merkel-Strategen bei einer Neuwahl für ihr unorthodoxes Verhalten von den Bürgern bestraft werden. Merkel ist in der Bevölkerung nach wie vor beliebt genug, und ihr Wille zum Durchhalten ist allgemein bekannt. Zögen sich aber die Sozialdemokraten ihrerseits und scheinbar nur zum Selbsterhalt frühzeitig aus der Regierungsverantwortung, träfe sie der Ärger des Stimmvolks. So bleiben alle an Merkel gebunden.

Es scheint wie ein Fluch: Wer diese Regierung auch auflösen möchte, dürfte dafür von den Wählern früher oder später bestraft werden. Wer aber in der Regierung bleibt, wird ebenfalls bestraft. Eine Ausnahme gibt oder gab es allerdings: Merkel. Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein hätte sie kaum besser zeigen können, als wenn sie 2017 zurückgetreten wäre. Sie hätte der deutschen Politik neue Möglichkeiten eröffnet.