Markt, Macht und Marktmacht

(c) REUTERS (Toby Melville)
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Die EU ist ein Algorithmus, der für Wohlstand sorgen soll – und mit der ökonomischen Großmachtpolitik Chinas nur schwer umgehen kann.

Wenn Margarethe Vestager in Brüssel vor die Mikrofone tritt, um die Entscheidung der EU-Kommission über die geplante deutsch-französische Fusion von Siemens uns Alstom zu verkünden, dann wird es dabei nur vordergründig um die Eisenbahntechnik gehen. Denn anhand der für den heutigen Mittwoch erwarteten Verlautbarung der Wettbewerbskommissarin lassen sich die Schwierigkeiten durchdeklinieren, die die aktuelle ökonomische Wetterlage der EU bereitet. Wie geht Europa mit dem Wandel des Globalisierungsklimas und dem Anstieg der Temperaturen im Wettstreit zwischen den USA und China um? Das Urteil wird diesbezüglich neue Erkenntnisse liefern.

So gut wie alle Beobachter gehen davon aus, dass Brüssel den Zusammenschluss untersagen wird. Vestager selbst soll sich bereits gegen die Fusion ausgesprochen haben. Die Ablehnung wird mit der Tatsache begründet, dass ein aus Siemens und Alstom hervorgegangener Konzern dank seiner schieren Größe die Preisgestaltung in Europa dominieren würde. Und gemäß der europäischen Wettbewerbsorthodoxie gereicht eine derartige Marktmacht den Konsumenten und Mitbewerbern zum Nachteil.

Diese Betrachtungsweise ist einerseits korrekt und konsequent. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Kommission nach denselben Kriterien mehr als 6000 Unternehmenszusammenschlüsse beurteilt. Das Problem an dieser Konsequenz ist andererseits, dass sie zusehends antiquiert wirkt. Die Hauptaufgabe der Europäischen Kommission ist es, den Binnenmarkt am Laufen zu halten. Als dieser Binnenmarkt vor rund 30 Jahren verbreitert und vertieft wurde, sah die Welt noch anders aus. Die einzigen wirtschaftlichen Konkurrenten mit Gewicht waren die USA – zu denen die Europäer ohnehin eine Sonderbeziehung pflegten – sowie Japan. Ansonsten tummelten sich am europäischen Binnenmarkt vor allem europäische Player. Um den europäischen Wohlstand zu mehren, musste Brüssel lediglich dafür sorgen, dass sich diese Player an dieselben Spielregeln halten.

Man kann sich die EU wie ein algorithmisches System vorstellen, dessen Aufgabe es ist, den Binnenmarkt zu steuern, um Wohlstand in Europa zu maximieren. Dieser Ansatz stößt an seine Grenzen, wenn die Gleichung um machtpolitische Variablen erweitert wird – womit wir wieder bei Siemens und Alstom angelangt wären. Es macht nämlich wenig Sinn, die Gründung eines europäischen Bahn-Champions mit dem Verweis auf seine marktbeherrschende Größe zu untersagen, wenn man gleichzeitig zulässt, dass von der Kommunistischen Partei Chinas hochgezüchtete Riesenkonzerne den Markt aufrollen.

Dass die EU-Kommission überparteilich agiert und dem Wohl aller Europäer – und nicht nur den Interessen Deutschlands und Frankreichs – verpflichtet ist, ist wichtig und richtig. Nicht richtig ist allerdings die Behauptung, die Behörde sei über das Politische erhaben. Denn die Kommission handelt mittlerweile erstaunlich oft politisch: in den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien, beim Abwägen der Interessen der europäischen Schuldner- und Gläubigerländer, bei der weltweiten Etablierung europäischer Normen und Standards.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet muss das Urteil über die aktuelle Wettbewerbspolitik zwiespältig ausfallen. Ein Verbot der Fusion von Siemens und Alstom wäre definitiv schlüssig, wenn die Kommission zugleich garantieren könnte, dass die europäischen Unternehmen, die von ihr am Wachstum gehindert werden, auch in der Zukunft vor der Übermacht chinesischer Staatsunternehmen schützen wird. Das kann sie allerdings nicht – denn die Volksrepublik zieht alle Register, um ihren Firmen einen Startvorteil zu verschaffen.

Die Causa Siemens-Alstom ist vermutlich die letzte große Wettbewerbsentscheidung vor der Europawahl im Mai. Vestager und Co. treten im Herbst ab – und die neuen Pfleger der europäischen Wettbewerbslandschaft werden die folgende Frage beantworten müssen: Welchen Sinn machen akkurat gestutzte Hecken, wenn Schlingpflanzen über den Gartenzaun wuchern?

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2019)

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