Viktor Orbán möchte gerne aus der Europäischen Volkspartei rausgeworfen werden. Anders lässt sich seine jüngste Provokation nicht erklären. Die ungarische Regierung lancierte eine Plakatkampagne, in der sie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als eine Art Komplizen des amerikanischen Milliardärs George Soros darstellt. Beide würden die illegale Einwanderung fördern.

"Auch Sie haben das Recht zu wissen, was Brüssel vorhat", so wird die Kampagne eingeleitet. Will sagen: In Brüssel regieren hinterlistige Mächte, die den Ungarn nur Böses wollen! Aber ich, Viktor Orbán, bin wachsam! Das EVP-Mitglied Juncker, der sich bisher gegenüber Orbán immer gelassen gab, konnte nicht mehr an sich halten. Er warf ihm "Lügen" vor und er legte der EVP nahe, Orbáns Partei Fidesz auszuschließen. Wäre das nun ein zielführender Schritt?

Es gibt eine ganze Reihe schwerwiegender Gründe, die für den Ausschluss von Fidesz aus der EVP sprechen. Orbán kujoniert in Ungarn die Richter, er knebelt freie Presse, er drangsaliert die Opposition und er arbeitet bei seiner Dauerkampagne gegen George Soros mit offen antisemitischen Klischees. Er hat Ungarn innerhalb der Europäischen Union zu einem autoritären Staat umgebaut. Juncker hat schon recht, wenn er sagt, Orbán vertrete in "keinerlei Weise die europäischen Werte". Ja, man muss weiter gehen. Orbán ist eine Gefahr für die demokratische, liberale und tolerante Europäische Union. Wem diese EU etwas bedeutet, der muss dagegenhalten.

Das vermeintliche Opfer finsterer Mächte

Und trotzdem, ein Ausschluss aus der EVP würde nicht helfen. Orbán arbeitet aus einem guten Grund hart an seinem Rauswurf. Er möchte sich als Märtyrer darstellen, als Opfer finsterer Mächte, die ihn aus dem Weg räumen, weil er sich gegen die Zerstörung europäischer Nationen durch die "Globalisten" wehrt. Orbán versteht sich selbst als europäischer Führer. Er will nicht nur zu den Ungarn sprechen. Und Verschwörungstheorien können in Europa Massen mobilisieren, nicht nur die Ungarn sind dafür empfänglich, auch Deutsche, Italiener, Franzosen sind es. Europa, der Hort der Aufklärung, ist gleichzeitig die Heimstatt des Obskurantismus. Das wird immer deutlicher.

Nein, die Gelegenheit, sich zum gesamteuropäischen Märtyrer zu stilisieren, sollte man Orbán nicht geben. Ihm ist mit einem Frontalangriff nicht beizukommen. Das wird ihn nur stärken. Wer ihn bekämpfen will, der hat eine Vielzahl anderer Möglichkeiten. Das gilt für die Europäische Union, das gilt für die EVP, das gilt für die Mitgliedsstaaten der Union. Sie alle können Orbán auf unterschiedlichen Ebenen zusetzen. Man kann sein Umfeld austrocknen, man kann ihn finanziell an die kürzere Leine nehmen, man kann ihm die große Bühne verwehren, man kann auch ohne ihn zu den Ungarn sprechen, man kann diesen Mann also auf eine ebenso stille wie effiziente Weise ächten.

Nur eine unerfreuliche Etappe

Es darf etwa nicht mehr sein, dass Orbán von der CSU und anderen europäischen Parteien geradezu hofiert wird, wie es in den letzten Jahren geschehen ist. Tatsächlich distanzieren sich die Vorsitzenden von CSU und auch CDU: Die jüngsten Äußerungen von Orbán seien nicht akzeptabel, sagte Markus Söder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Wir wollen auch niemanden aus der europäischen EVP-Familie hinaustreiben. Aber man muss auch klarstellen, was geht und was nicht." Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte dem Spiegel, es liege nun "an der ungarischen Seite, belastbar zu beweisen, dass sie sich der EVP noch zugehörig fühlt". Die jüngsten Vorwürfe der Fidesz schadeten der "EVP als Ganzes".

Es ist auch auf europäischer Ebene einiges, wenn nicht auch genug, in die richtige Richtung geschehen. Im September etwa stimmte das Europaparlament mit großer Mehrheit für ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn. Die EVP-Fraktion gab die Abstimmung frei. Manfred Weber, Fraktionschef der EVP und Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten, stimmte für eine Eröffnung dieses Verfahrens. Das war ein klarer Bruch mit Orbán.  

Vielen mag das viel zu wenig erscheinen. Viele möchten die ganz großen Geschütze auffahren – "Raus mit ihm!". Wer das fordert, dem ist der Applaus von den Rängen gewiss, von ganz links außen bis weit in die Mitte des politischen Spektrums wird er aufbranden. Doch der Drang nach einem spektakulären Akt gegen Orbán ist nicht nur politisch kurzsichtig, er wird auch befeuert von der klassisch populistischen Sehnsucht nach einfachen Antworten. Doch in Europa ist sehr wenig einfach.

Europa, das ist auch die Geschichte des langen, zähen, unerbittlichen Kampfes gegen die Finsternis, der immer wieder neu geführt werden muss. Klugheit, Geduld, Ausdauer und Entschlossenheit sind gefragt. Europa hat noch einen langen Weg vor sich, und mit etwas Glück und viel Geschick wird Orbán irgendwann nur eine unerfreuliche Etappe gewesen sein. Ein Mühlstein, der am Wegesrand liegt, eine blasse Erinnerung an schwierige Zeiten.