Kommentar

Die türkische Demokratie, sie lebt noch!

Die Bürgermeisterwahl in Istanbul markiert eine Zäsur. Erdogan kann sich nicht mehr allein auf den «nationalen Willen» berufen.

Daniel Steinvorth
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Ekrem Imamoglu (Mitte) feiert seinen Wahlsieg am Sonntag in Istanbul mit seinen zahlreichen Anhängern. (Bild: Onur Gunay / AP)

Ekrem Imamoglu (Mitte) feiert seinen Wahlsieg am Sonntag in Istanbul mit seinen zahlreichen Anhängern. (Bild: Onur Gunay / AP)

Es sagt viel aus über den Zustand der türkischen Demokratie, dass man den Wahlverlierern an diesem Sonntag alles zugetraut hätte. Würden die islamonationalistische AKP und ihr Bürgermeisterkandidat für Istanbul, Binali Yildirim, erneut den Sieg von Ekrem Imamoglu anfechten, der bei dieser Wiederwahl nicht mit 13 000, sondern mit 750 000 Stimmen im Vorsprung war? Würde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Ende wieder etwaige Tricks, Vorwürfe und Verschwörungstheorien aus dem Hut zaubern, um nicht als Verlierer dazustehen? So oft wurden in der Vergangenheit oppositionelle Hoffnungen in der Türkei zerstört, dass selbst im Angesicht eines überdeutlichen Wahlsieges die pessimistischen Reflexe noch überwogen.

Aber nein! Am späteren Abend meldete sich schliesslich auch Erdogan via Twitter zu Wort und verhielt sich wie ein reifer Demokrat: Er gratulierte dem Oppositionskandidaten, den er eben noch im Wahlkampf als «Terrorunterstützer» geschmäht hatte, zu seinem Sieg. So scheint mit dem Segen des mächtigen Präsidenten der Wahltriumph Imamoglus vollständig, und die Millionen seiner Istanbuler Anhänger durften an diesem 23. Juni für einmal ohne Sorgen jubeln und tanzen. Die türkische Demokratie, sie lebt noch!

Dabei hätte auch ebenso mit einer knappen oder klaren Niederlage Imamoglus gerechnet werden können – nach allen Erfahrungen und nach allem Gewicht, das Erdogan selbst der grössten und wichtigsten Stadt des Landes beimisst, in der einst seine politische Karriere begann und in der er bis heute sein Patronagenetzwerk pflegt. Die Parole «Wer Istanbul besitzt, regiert die Türkei» stammt aus Erdogans Mund, und diesen Besitzanspruch untermauerte der ehemalige Oberbürgermeister mit religiösen Motiven. Geradezu gottgewollt war für ihn, dass in der 15-Millionen-Metropole eine islamische Partei den Ton angab.

Man reibt sich also die Augen ob Erdogans Eingeständnis. Nicht eine der verzweifelten Aktionen, die die schlechten Umfragewerte noch herumreissen sollten, fruchtete: Der mysteriöse angebliche Brief des inhaftierten PKK-Anführers Öcalan an die Kurden, «neutral» zu wählen, erreichte wohl eher sein Gegenteil. Und die durchsichtigen Versuche, Imamoglu wegen seiner Herkunft vom Schwarzen Meer als «Krypto-Griechen» zu diffamieren oder die Echtheit seines Universitätsabschlusses anzuzweifeln, waren an Einfalt nicht zu übertreffen. Ging den Wahlstrategen der AKP am Ende ob der niederschmetternden Umfragewerte die Luft aus?

Klar ist: Diese erste wirkliche und grosse Niederlage Erdogans markiert eine Zäsur. Denn wenngleich der Präsident weiter am längeren Hebel sitzen wird, wenngleich der Staatsapparat und die Justiz auf seinen Willen hören und die Medien keinen Widerspruch mehr leisten, kann er seine autoritäre Herrschaft nicht mehr allein mit dem «nationalen Willen» begründen. Dieser Automatismus funktioniert seit dem 23. Juni nicht mehr, und das könnte auf lange Sicht tatsächlich den Anfang vom Ende der Ära Erdogan einleiten.

Dem NZZ-Nahostredaktor Daniel Steinvorth auf Twitter folgen.