Kommentar

Politischer Erdrutsch in der Ukraine: Der «Diener des Volkes» erhält Verstärkung

Der Wahlsieg des neuen ukrainischen Präsidenten Selenski weckt Hoffnungen auf einen Frieden in der Donbass-Region. Doch diese sind verfrüht. Selenski muss mit einem mächtigen Spielverderber rechnen – dem Kremlherrn Putin.

Andreas Rüesch
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Wolodimir Selenski, der unversehens vom Komiker zum Staatsoberhaupt aufgestiegene Hoffnungsträger vieler Ukrainer, hat ein erstes Etappenziel erreicht: die Schaffung einer starken Hausmacht im Parlament. (Bild: AP)

Wolodimir Selenski, der unversehens vom Komiker zum Staatsoberhaupt aufgestiegene Hoffnungsträger vieler Ukrainer, hat ein erstes Etappenziel erreicht: die Schaffung einer starken Hausmacht im Parlament. (Bild: AP)

Die ukrainische Revolution frisst ihre Kinder: Fünf Jahre nach dem Volksaufstand gegen die prorussische Führung in Kiew sind die damals treibenden Kräfte nun ihrerseits weitgehend von der politischen Bühne gefegt worden. Den Besen führen die «Diener des Volkes», wie sich die Protestpartei des Komikers Wolodimir Selenski nennt. Zuerst Selenski bei den Präsidentenwahlen im April und nun seine hastig zusammengestellte Kandidatentruppe bei den Wahlen zum Parlament haben einen überragenden Sieg errungen. Das Votum der Bevölkerung ist Ausdruck von tiefer Frustration über die bis anhin herrschende Elite. Die bunt zusammengewürfelten und von jeglicher politischer Erfahrung unbefleckten «Diener des Volkes» warben für sich mit dem Argument, dem Parlament nie angehört zu haben. Dass die Wähler dies so stark gewichteten, lässt tief blicken.

Zwei grosse Ziele

Selenski hat ein wichtiges Etappenziel erreicht, die Schaffung einer eigenen Hausmacht in der Werchowna Rada, die im ukrainischen Verfassungssystem einen mächtigen Gegenpart zum Staatspräsidium bildet. Er besitzt nun ein klares Mandat des Volkes. Doch wird er damit auch etwas erreichen? Selenski hat bisher zwei Prioritäten in den Vordergrund gestellt, zum einen die Säuberung der korrupten Staatsstrukturen, zum andern eine Friedenslösung für die sezessionistische Donbass-Region. Ersteres kann er mithilfe des Parlaments vorantreiben, Letzteres jedoch liegt nur beschränkt in seiner Macht. Darum sind Hoffnungen auf einen Frieden derzeit wenig realistisch.

Der entscheidende Akteur in der Donbass-Frage sitzt nicht in Kiew, sondern im Kreml. Es war der russische Präsident Putin, der im Februar 2014 militärisch intervenierte, die Krim unter Moskauer Kontrolle brachte und anschliessend die Abspaltung von mehrheitlich russischsprachigen Gebieten in der Ostukraine orchestrierte. Ohne russische Hilfe wären die selbsternannten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk nicht lebensfähig. In einem zynischen Machtspiel nutzt Moskau den Donbass-Konflikt, um der Ukraine die Abhängigkeit vom grossen Nachbarn im Osten vor Augen zu führen, das Land in seiner Entwicklung zu behindern und den Ukrainern den Weg der Westintegration zu versperren.

Dass sich Russland auf diese Weise selber geschadet und in die Isolation geführt hat, ist längst bekannt. Mit der Wahl Selenskis hätte sich daher eigentlich eine Chance für einen Neuanfang geboten, zumal der neue Präsident selber russischsprachig ist und gelobt hat, ohne ideologische Scheuklappen eine Lösung für den Donbass zu suchen. Doch Putin scheint zu einer Kehrtwende nicht fähig. Er setzt weiter auf die bisherigen Druckmittel – namentlich eine Kriegführung auf kleiner Flamme im Donbass, wirtschaftspolitische Erpressung, propagandistische Verteufelung der Ukraine in den russischen Medien und ständige Einmischungen in innere Angelegenheiten des Nachbarlandes. Während er sich bisher geweigert hat, seinen ukrainischen Amtskollegen zu treffen, empfing er wenige Tage vor der Parlamentswahl den Chef der prorussischen Oppositionsplattform im Kreml, als wolle er demonstrieren, auf wen Moskau setze. Ein ebenso unfreundlicher Akt war Putins Dekret, Einwohnern der von Kiew kontrollierten Gebiete im Donbass in einem erleichterten Verfahren russische Pässe zu verteilen.

Geringschätzung und Grossmachtgehabe

Ein vor wenigen Tagen veröffentlichtes Gespräch des russischen Staatschefs mit dem amerikanischen Regisseur Oliver Stone beleuchtet das Schlüsselproblem: Putin erklärt darin unverblümt, dass Ukrainer und Russen ein einziges Volk, eine einzige Nation seien. Dass sie wieder zusammenfänden, sei unausweichlich, zumindest in einer Art Bündnis. Dass die Ukrainer in ihrer grossen Mehrheit sich sehr wohl als eigenständige Nation betrachten und moskauhörigen Parteien wie der erwähnten Oppositionsplattform soeben eine klare Abfuhr erteilt haben, scheint Putin nicht zu interessieren.

Solange Russland die ukrainische Souveränität geringschätzt und diesen Staat gewissermassen als Unfall der Geschichte einstuft, wirkt ein Ende der Einmischung im Donbass illusionär. Die neue Führung in Kiew ist in dieser Situation auf starken Rückhalt aus dem Westen angewiesen. Selenski mag nicht der Wunschkandidat europäischer Regierungen gewesen sein, und Skepsis gegenüber den Fähigkeiten seiner Protestpartei ist angebracht. Aber seine prowestliche Orientierung hat er in den vergangenen Monaten genügend unter Beweis gestellt. Europa und Amerika haben jedes Interesse daran, dass die von ihm versprochenen Reformen gelingen. Dafür braucht Selenski wie sein Vorgänger ausländische Unterstützung – und eine deutliche Sprache gegenüber Moskau. Es gilt, konsequent klarzumachen, dass der Westen die russischen Grossmachtansprüche gegenüber der Ukraine niemals dulden wird.