Mit dem Austritt Grossbritanniens ist das künftige Verhältnis zur EU noch lange nicht geregelt. (Bild: Peter Summers / Getty Images)

Mit dem Austritt Grossbritanniens ist das künftige Verhältnis zur EU noch lange nicht geregelt. (Bild: Peter Summers / Getty Images)

Kommentar

Ein Ende der Brexit-Agonie ist in Sicht – fürs Erste

Mit der Einigung des britischen Parlaments auf Neuwahlen im Dezember haben die Parteien endlich den Weg zu einem möglichen Ende des Brexit-Dramas geebnet. Anfang nächsten Jahres könnte Grossbritannien aus der EU ausgetreten sein.

Peter Rásonyi
Drucken

Für die Gegner wie für die Anhänger des EU-Austritts Grossbritanniens, ja für das Königreich und ganz Europa ist das ein grosser Moment. Mit der Zustimmung zu Neuwahlen, zu der sich das Parlament in Westminster am Dienstagabend nach letzten verzweifelten Winkelzügen der Parteien durchgerungen hat, ist endlich ein Weg aus der Brexit-Sackgasse geebnet. Mehr als drei Jahre lang hatten zwei forsche, aber ziemlich machtlose konservative Premierminister, ein überforderter sozialistischer Oppositionsführer sowie ein galanter, aber zunehmend frustrierter Chefdiplomat in Brüssel um einen geordneten Austritt des Landes gerungen. Sie haben sich dabei andauernd gegenseitig blockiert. Nun ist ein Ende des Brexit-Dramas in Sicht.

Endlich übergeben die britischen Politiker und Parteien die Entscheidung über die Umsetzung des im Juni 2016 mit knappem Volksmehr beschlossenen Brexits an jene Instanz zurück, zu der sie gehört: das britische Wahlvolk. Dieses hat nun drei klar unterscheidbare Optionen.

Endlich neue Optionen für das Volk

Erstens kann das Volk den Liberaldemokraten in England und den Nationalisten in Schottland eine Parlamentsmehrheit verleihen. Die beiden Parteien würden das im März 2017 von der damaligen Premierministerin May in Brüssel eingereichte Austrittsschreiben sogleich zurückziehen, und der Schreck wäre vorbei. Grossbritanniens Mitgliedschaft in der EU ginge einfach weiter, als wäre nie etwas geschehen. Alle Austrittstermine würden hinfällig. Innenpolitisch wäre allerdings der Teufel los. Der epische Kampf der EU-Gegner gegen die britische Mitgliedschaft würde mit verstärkter Kraft und Gehässigkeit weitertoben.

Zweitens können die Wähler der oppositionellen Labour-Partei eine klare Parlamentsmehrheit geben oder allenfalls einer Koalition von Labour und Liberaldemokraten. Die neuen Machthaber an der Downing Street würden, wie von Labour-Führer Jeremy Corbyn nach langem Ringen mit sich selbst und seiner Partei unlängst versprochen, den Wählern ein zweites Referendum über den EU-Austritt anbieten. Dieses könnte irgendwann gegen Mitte des nächsten Jahres stattfinden, wobei der Volksentscheid unter Labours Regie wohl zwischen einem Verbleib in der EU und einer noch unklaren Vision eines «sanften» Austritts mit einer gewissen weiteren Anlehnung an die EU fiele.

Als dritte Option werden die Wähler den Tories jenes überzeugende Regierungsmandat geben, das ihnen seit Theresa Mays missratener Parlamentswahl von 2017 fehlt. Mit der Macht einer klaren Parlamentsmehrheit und der Legitimation einer Volkswahl ausgestattet, würde Premierminister Boris Johnson sofort zur Tat schreiten. Der Vollzug des EU-Austritts, der durch das Mitte Oktober mit der EU vereinbarte Austrittsabkommen vorgespurt ist, wäre wohl eher eine Frage von Tagen als von Wochen.

Die erste Variante ist sehr unwahrscheinlich. Noch nie haben die Briten den Liberaldemokraten auch nur annähernd eine Parlamentsmehrheit anvertraut. Zudem ist es laut Meinungsumfragen keineswegs so, dass eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung nichts anders wünscht als eine schnelle Revision des Austrittsentscheids von 2016. Die zweite Variante ist möglich, aber schwierig. Die jüngsten Meinungsumfragen zeigen Labour rund 10 Prozentpunkte hinter den Tories. Dieser Rückstand ist normalerweise kaum aufzuholen. Erschwerend kommt hinzu, dass Labour und Liberaldemokraten sich gegenseitig die Stimmen der EU-Befürworter abjagen werden, der lachende Dritte könnten in vielen Wahlkreisen die Tories sein. Allerdings ist diese Wahl wegen der Vermischung mit einem Verdikt über den Brexit ungewöhnlich und unberechenbar, Überraschungen sind wahrscheinlich.

Hoffnung auf Rückkehr zur Normalität

Unter normalen Umständen gälte als das wahrscheinlichste Ergebnis ein Wahlsieg der in Umfragen klar führenden Tories. Zwar ist deren Führer wie auch der von diesem anvisierte harte Brexit höchst umstritten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Brexit Party von Nigel Farage weiterhin da ist und den Tories Stimmen abnehmen wird. Doch vielen Briten ist der Wunsch am wichtigsten, dass sie mit einer Stimme für die Konservativen das Brexit-Drama rasch hinter sich bringen und zur lang ersehnten politischen und gesellschaftlichen Normalität zurückfinden können. Das ist das zentrale Wahlversprechen Johnsons. Zudem profitiert dieser von der enormen Unbeliebtheit seines Herausforderers Corbyn, der mit einem sozialistischen Programm die britische Wirtschaft umkrempeln will und damit ebenfalls für viel Unsicherheit und Widerstand sorgt.

Was vielen Wählern allerdings nicht bewusst ist: Gerade die Hoffnung auf Normalität ist trügerisch. Denn mit dem Austritt ist das künftige Verhältnis zur EU noch lange nicht geregelt. Es müssen weitere mühsame Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen und Tausende von Detailfragen des künftigen Zusammenlebens mit der Union geklärt werden. Interessenkonflikte, Streit, Frustration und Unsicherheiten werden noch lange nicht vorbei sein. Darunter wird auch die Wirtschaft weiter leiden.

Der Gewinner der Wahl ist kaum vorherzusagen. Wie auch immer die Wähler sich entscheiden werden. Es ist gut, dass sie endlich das Sagen haben. Grossbritannien und ganz Europa haben an diesem Abend einen bedeutenden Schritt in die Zukunft gemacht, auch wenn diese ungewiss bleibt.