Kommentar

Bei der Organspende darf es keinen Zwang in die eine oder in die andere Richtung geben. Einen Zwang, sich überhaupt zu entscheiden, allerdings schon

Die Demokratie lebt von aktiven und informierten Bürgern. Angesichts der niedrigen Zahl der Organspender ist es richtig, ihnen eine Entscheidung zuzumuten.

Anja Stehle, Berlin
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Während einer Herzoperation bei einem Kleinkind im Universitätsspital Lausanne (Aufnahme aus dem Jahr 2013).

Während einer Herzoperation bei einem Kleinkind im Universitätsspital Lausanne (Aufnahme aus dem Jahr 2013).

Gaëtan Bally / Keystone

Der Bundestag hat den Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung am Donnerstag abgelehnt. Damit wird die Regelung zur Organspende nicht grundlegend verändert. Der Entwurf sah vor, dass jeder Spender wird, sofern er nicht aktiv widerspricht.

In Deutschland ist die Lage bei den Organspenden so: Eine deutliche Mehrheit findet es gut, nach dem Tod Leber, Niere oder Lunge zu spenden. Manch eine Umfrage kommt sogar auf 80 Prozent der Deutschen, die eine Organentnahme nach dem Tod befürworten würden. Dem gegenüber steht die konkrete Spendenbereitschaft. Die ist seit Jahren niedrig – auch im internationalen Vergleich. Auf mehr als 9000 Menschen, die im vergangenen Jahr dringend ein neues Organ benötigten, kamen nur etwas mehr als 900 Spender. Der Staat muss etwas tun, darüber gibt es auch im Bundestag einen breiten Konsens. Die Frage ist nur: Wie gross darf der Eingriff sein?

Mit der derzeitigen Gesetzeslage könnte man sein ganzes Leben verbringen, ohne mit der Organspende konfrontiert zu werden – wenn es gut läuft. Hin und wieder wird der Bürger auf grossen Plakaten oder auf dem Amt darauf hingewiesen, dass es so etwas wie Organspendeausweise gibt und dass es doch gut wäre, sich darum zu kümmern, eine Aussage zu machen. Doch die Zahlen zeigen: All die teuren Werbekampagnen haben wenig gebracht. Der Vorschlag, bei der derzeit geltenden Regel zu bleiben, greift daher zu kurz. Selbst wenn sie vorsieht, die Bürger künftig noch ein bisschen häufiger auf die Organspende hinzuweisen, etwa bei der Beantragung von Pässen oder beim Arzt. Bürgerämter tun dies längst. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahl der Spender stark ansteigt, nur weil die Menschen den Organspendeausweis demnächst nicht alle fünfzehn, sondern vielleicht alle zehn Jahre unter die Nase geschoben bekommen, ist gering.

Die bisherige Regel schränkt die Selbstbestimmung ein

Es ist daher gerechtfertigt, den nächsten Schritt zu gehen. Die Widerspruchslösung sieht vor, dass jeder als Spender infrage kommt, es sei denn, man hat widersprochen. Gegner der Regel sehen sich darin in ihrer Freiheit beschränkt und das Recht auf Selbstbestimmung verletzt. Sie sehen den Körper schon als eine Art Ersatzteillager, eine Art Allgemeingut, das nach dem Tod automatisch in Staatshände übergeht.

Aber sie übersehen dabei zweierlei: Es ist, zum einen, die bisherige Regel, die das Recht auf Selbstbestimmung einschränkt – in dem häufig auftretenden Fall, dass der Verstorbene keinen Organspendeausweis bei sich trägt. Die Angehörigen dürfen dann selbst entscheiden, was sie für richtig halten und ob sie nach dem Willen des Verstorbenen handeln wollen (falls sie diesen Willen überhaupt kennen). Gemäss der Deutschen Stiftung Organtransplantation liegt eine schriftliche Willensbekundung derzeit nur bei 15 Prozent der möglichen Organspender vor. Rund 19 Prozent der Angehörigen entscheiden nicht nach dem mutmasslichen Willen des Verstorbenen, sondern nach ihren eigenen Wertvorstellungen. Mit der Widerspruchslösung wäre das nicht mehr möglich – dann gilt die Entscheidung des Verstorbenen.

Jeder kann Nein zur Organentnahme sagen

Zum anderen ist die Erzählung von dem zum Allgemeingut verkommenen Körper übertrieben. Die Widerspruchslösung will keinen Zwang zur Spende. Vielmehr zwingt sie die Bürger, aktiv zu werden, sich zu entscheiden. Es geht nicht darum, vorzuschreiben, was der Bürger über die Organentnahme denken und glauben soll – der Staat sollte dies auch nicht vorschreiben. Jeder kann einfach Nein zur Organspende sagen, ohne Angabe von Gründen.

Vielmehr geht es also darum, eine bewusste Entscheidung herbeizuführen. Das setzt voraus, dass keiner durch einseitige Kampagnen beeinflusst wird, dass jeder Zugang zu wichtigen Informationen hat. Es muss maximal einfach sein, den Widerspruch kundzutun. Das geplante Online-Register, in dem der Entscheid hinterlegt ist und auf das die Ärzte im Fall der Fälle Zugriff haben, ist schon ein richtiger Ansatz. Es setzt zudem voraus, dass Menschen von der Widerspruchslösung ausgenommen sind, wenn sie – etwa durch eine geistige Behinderung – keine bewusste Entscheidung treffen können. Auch das sieht die Widerspruchslösung vor. Dieser Punkt ist besonders wichtig und muss ständig überprüft werden. Schwäche darf bei der Organentnahme nicht ausgenutzt werden.

Demokratie braucht aktive Bürger

Kann der Staat also von den Bürgern verlangen, sich ein Urteil zu bilden?Demokratie lebt von aktiven, informierten Bürgern, die bewusst und verantwortungsvoll handeln. Freiheit und Demokratie setzen die Fertigkeit voraus, den Wert und die Folgen einer Entscheidung einzuschätzen. Der Staat sollte nicht die Richtung vorgeben, aber er kann die Auseinandersetzung mit wichtigen Themen fördern. Selbst der liberale Denker John Stuart Mill hielt es für richtig, den Denkfaulen einen Stoss zu geben. Der Staat könne Bildung bis zu einem gewissen Grad fordern und erzwingen, heisst es unter anderem bei Mill.

Täglich werden wir mit der Pflicht konfrontiert, uns im Sinne des Gemeinwesens zu entscheiden. Wir müssen eine Krankenversicherung wählen. Kaufen wir ein Auto, müssen wir uns für eine Haftpflichtversicherung entscheiden, weil wir Schaden von anderen abwenden wollen. Längst ist auch der Zugriff des Staates auf unseren Körper umfassend, wie der Publizist Gero von Radow einmal herausgearbeitet hat. Für den Reisepass nimmt der Staat biometrische Daten, wie unsere Fingerabdrücke. Er sperrt Kriminelle ein, er schiebt ab, er tastet uns beim Sicherheitscheck am Flughafen ab. Er filmt uns auf öffentlichen Plätzen. Er schränkt unser Recht auf Rausch ein, indem er Drogen verbietet und Rauchverbote erteilt. Ja er zwingt uns sogar zur Impfung.

Der Staat soll sich für alle Menschen einsetzen – auch für die kranken

Warum ist das so? Weil wir es in demokratischen Prozessen so entschieden haben. Weil es besser ist für unsere Sicherheit und Gesundheit. Weil wir unserem Verständnis von Freiheit eine Bestimmung und einen Wert gegeben haben, auf deren Grundlage wir es für sinnvoll erachten, Freiheiten einzuschränken und Regeln zu setzen. Freiheit bedeutet nicht, dass ein jeder nach dem Motto «nach mir die Sintflut» leben kann, weil eben gerade das die Freiheit aller einschränken würde.

Jede dieser Einengungen muss ständig überprüft werden, und sie gelten nicht als Rechtfertigung für zukünftige Grenzen. Aber sie können dabei helfen, die Freiheit des Einzelnen im Lichte eines höheren Zwecks zu betrachten. In diesem Fall geht es um das Leben Tausender und die Pflicht des Staates, sich für alle Menschen einzusetzen – auch für die kranken.