Kommentar

Auschwitz begreifen zu wollen gleicht dem Versuch, offenen Auges in die Sonne zu starren

Wenn heuer der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren gedacht wird, dann geht auch die Sorge um, wie es mit dem Gedenken an die Shoah ohne die unmittelbaren Zeugen weitergeht. Für die Zukunft Europas als aufklärerisches zivilisatorisches Projekt ist die Perspektive auf den Abgrund des Grauens unabdingbar.

Andreas Breitenstein
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Neugier, Wissen und Konzentration, Empathie und Phantasie – nur damit kann man sich Auschwitz auf angemessene Weise nähern. – Galerie von Häftlingen im ehemaligen Vernichtungslager.

Neugier, Wissen und Konzentration, Empathie und Phantasie – nur damit kann man sich Auschwitz auf angemessene Weise nähern. – Galerie von Häftlingen im ehemaligen Vernichtungslager.

Axel Schmidt / Reuters

Bald schon wird es jene nicht mehr geben, welche die Hölle der nationalsozialistischen Vernichtungslager am eigenen Leib erfahren haben. Die Höhe des Alters, das sie trotz allem erreichten, und die Kinder, die sie gebaren, sprechen Hitlers Absicht, die «jüdische Rasse» auszulöschen, mit der elementaren Kraft des Lebendigen Hohn. Dennoch stellt ihr Verschwinden eine Zäsur dar. Es wird keiner mehr da sein, der aus erster Hand die Geschichte seines Überlebens erzählen und Dinge bezeugen kann, die sich der Vorstellungskraft lange entzogen, weil sie undenkbar schienen: die planvolle Organisation und die technische Optimierung der industriellen Tötung von Millionen von Menschen, einzig um ihrer gesellschaftlichen und religiösen Zugehörigkeit willen. Primo Levi, einer, der Auschwitz überstand und sich später umbrachte, schrieb: «Es ist nicht zulässig zu vergessen, es ist nicht zulässig zu schweigen. Wenn wir schweigen, wer wird dann sprechen? (. . .) Wenn unsere Zeugenschaft fehlt, werden in nicht ferner Zukunft die bestialischen Taten der Nazis, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, unter die Legenden eingereiht werden können.»

So wächst denn die Sorge, dass die Shoah früher oder später dem Vergessen anheimfallen und die Erinnerung daran ihr Gewicht verlieren könnte – jenes Gewicht, dessen unermessliche Last uns moralisch aufrecht hält. Es geschieht dies vor dem Hintergrund, dass in den Ländern Europas mit dem Erstarken der politischen Rechten der Judenhass wächst. Gewalttätige Übergriffe auf Juden häufen sich; öffentliche Hassreden, Beleidigungen und Bedrohungen sind an der Tagesordnung. Zum alten europäischen Antisemitismus der Einheimischen gesellt sich der muslimische Antisemitismus derer, die aus Syrien, Afghanistan oder Nordafrika eingewandert sind. Die als illegitim erklärte staatliche Existenz Israels, eine Konsequenz nicht zuletzt der Ohnmachtserfahrung der Shoah, heizt Vorurteile, Verschwörungstheorien und Gewaltphantasien quer durch die Fronten von rechts und links, heimisch und fremd zusätzlich an.

Ratlos vor dem Antisemitismus

Die Politik reagiert ungläubig, träge und ratlos, mit Sorgenfalten, Appellen und Ritualen. Die Ängste jüdischer Gemeinden werden zwar nicht unernst genommen. Polizeiliche und sicherheitstechnische Massnahmen liegen nahe, werden aber oft halbherzig ergriffen. Es scheint weltanschaulich etwas ins Rutschen zu geraten. Ein von der Komplexität der Gegenwart entlastendes, durch die sozialen Netzwerke befeuertes Freund-Feind-Denken grassiert und wirft mentale Strukturen durcheinander, so dass das Altbewährte nicht mehr greift: der aufklärerisch-rationale, moralisch-historische Diskurs gegen den Irrationalismus von Judenhass und Antisemitismus.

Den Tod auf der Zunge zu spüren und ihn doch nicht schlucken zu müssen, scheint das Höchste der Gefühle.

Mit Blick auf die Zukunft sind hier besonders Schulen und Universitäten herausgefordert, doch fällt es ihnen schwer, einer zunehmend multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in toto das Narrativ immerwährender deutscher Verantwortung gegenüber den Juden zu vermitteln. Dabei hat Deutschland Bedeutsames geleistet, was die Aufarbeitung seiner verbrecherischen totalitären Vergangenheit betrifft – in Anerkennung und Abgeltung von Schuld, in Forschung und Erziehung, in Mahn- und Gedenkkultur. Auf der Suche nach einem gemeinsamen ethischen Fundament erkor das befreite und vereinte Europa nach 1989 nicht zufällig den Kataklysmus der Shoah zu seinem Gründungs- und Erneuerungsmythos. «Nie wieder Auschwitz» und «Nie wieder Krieg» lautet bis heute die Raison d’être aller europäischen Institutionen.

Doch kann die Shoah wirklich verblassen? Auschwitz bedeutet nicht weniger als den Kollaps jeder humanistisch-optimistischen Weltanschauung. Es ist keine Panne, nach der man zur Tagesordnung übergehen könnte, sondern ein Riss im Kontinuum der Geschichte und von bleibender Gegenwart. Noch wissen und spüren dies die meisten, und so gibt es zum aufkeimenden Antisemitismus auch das Gegenteil – einen Boom des Interesses für das Judentum und seine Historie. Der Andrang zu persönlichen Begegnungen mit Überlebenden ist gross, und riesig sind die Besucherströme zu den Gedenkstätten des Grauens. Vor Ort gelangen Personal und Infrastruktur mittlerweile an die Grenze der Belastbarkeit – eine spezielle Form von Overtourism.

Gedächtnisort und Freizeitanlage

2,15 Millionen Menschen besuchten 2018 die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Auschwitz. Auschwitz-Birkenau, das riesige Aussenlager des Stammlagers Auschwitz I, war die grösste NS-Tötungsfabrik, wo zwischen 1941 und 1944 rund eine Million Juden und 160 000 Nichtjuden ermordet wurden. Juden wurden in allen von der Wehrmacht eroberten Staaten systematisch aufgegriffen und brutal per Bahn in Viehwaggons hierhingekarrt. Die wenigen, die nach Ankunft als arbeitsfähig taxiert und nicht gleich ins Gas geschickt und sodann verbrannt wurden, hatten Sklavenarbeit zu verrichten. Sie erlagen mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheit, Unterernährung, Erschöpfung, Misshandlung oder medizinischen Experimenten. Der Phantasie des Tötens waren in Auschwitz keine Grenzen gesetzt. Nur die Glücklichen schafften es zu überleben.

Als «Kapitale des Lagerimperiums» (Primo Levi) wurde Auschwitz nach dem Krieg zum Inbegriff des nationalsozialistischen Völkermords. Die «Topografie des Terrors» aber nahm ihren Anfang in Deutschland. Und auch die deutschen KZ-Gedenkstätten vermelden Besucherrekorde. In Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Bergen-Belsen und in der ehemaligen Berliner Gestapo-Zentrale finden sich jährlich Millionen ein. Dabei sind die Besucherströme sehr international, und es gibt seit einiger Zeit das didaktische Konzept, ganze Schulklassen nach einer intensiven Zeit der Vorbereitung im Unterricht an die Orte des Schreckens zu führen.

Wo sich aber Menschen drängen, schwinden leicht Sensibilität und Selbstkontrolle. Der Gedächtnisort wird zum Themenpark und zur Freizeitanlage. Mit unappetitlichen Folgen: Man fabriziert fröhliche Selfies und lustige Hashtags am Lagertor (mit dem unüberbietbar zynischen Spruch «Arbeit macht frei») sowie vor Gaskammern oder Erschiessungswänden. Betroffenheit oder Blödsinn – Instagram-tauglich ist beides. Ohnehin hat sich zwecks Selbstinszenierung und Distinktionsgewinn auf Social Media ein weltweiter Katastrophentourismus entwickelt, der vom «Ground Zero» über Tschernobyl bis zu den kambodschanischen «Killing Fields» reicht. Auschwitz darf in der Trophäensammlung der Angstlust nicht fehlen. Den Tod auf der Zunge spüren und ihn doch nicht schlucken zu müssen, scheint das Höchste der Gefühle.

Dabei ist keineswegs sicher, dass ein Besuch vor Ort tiefere Einsicht vermittelt. Man wird durch das weitläufige Gelände von Birkenau streifen und kann doch nicht fassen, warum und wie hier im Frühling 1944 rund 60 000 Menschen pro Monat ermordet und beseitigt werden konnten. Es gibt zu Recht Bibliotheken von Büchern über Auschwitz und das grenzenlose Leid, das Menschen Menschen hier antaten: heimliche Aufzeichnungen (wie jene des «Sonderkommandos» aus dem Herzen der Finsternis), Überlebensberichte und Erinnerungen, Romane und Essays, Sachbücher, Dokumente, Fotos. Hinzu kommen die Museen mit den Artefakten der Opfer: Berge von Haarbüscheln, ein Gewirr von Brillen, haufenweise Geschirr und Besteck, Tausende Koffer, ungezählte Paar Schuhe. Und auch die Zurüstungen, Pläne und Akten der Mörder sind vorhanden. Kaum ein historisches Ereignis ist eingehender erforscht. Und dennoch gleicht Auschwitz zu begreifen, dem Versuch, offenen Auges in die Sonne zu starren, wie der Historiker Louis de Jong schreibt.

Immer besser scheitern

Gerade weil Auschwitz ein schwarzes Loch des Verstehens darstellt, ist es umwuchert von Abwehrmechanismen aller Art. Man kann Auschwitz schlicht leugnen. Man kann Auschwitz mit Rhetorik und Ritualen so zuschütten, dass nur noch «Gedächtnistheater» (Michal Bodemann) übrig bleibt. Man kann es überhöhen, so als ob es sich um eine religiöse Offenbarung handelt. Man kann es negativ sakralisieren und ein Darstellungsverbot verhängen, wie es Adorno tat. Man kann es umgekehrt historisieren und gegen jeden anderen Genozid aufrechnen, so als ob sich damit etwas rechtfertigen liesse. Man kann es zum Totschlagwort erheben und durch inflationären Gebrauch verharmlosen. Man kann Auschwitz instrumentalisieren, um sich zu erhöhen und andere zu erniedrigen (wie Putin es gerade breitbeinig tut). Man kann es nationalisieren, um sein Land gegen Angriffe zu immunisieren. Man kann es pädagogisieren, so als ob dort zur Belehrung der Menschheit gestorben wurde. Man kann Auschwitz intellektualisieren und abstrakte Endlosdebatten über das ultimative Warum führen. Man kann es ästhetisch trivialisieren und seinen Stoff der kommerzialisierbaren Gefühligkeit eines Massenpublikums anheimstellen.

Wenn es denn einen überhaupt «wahren» Umgang mit Auschwitz gibt, dann ist es das Scheitern. Die Grossen unter den Schriftstellern der Shoah wie Imre Kertész, Primo Levi, Tadeusz Borowski, Cordelia Edvardson, Paul Celan, Danilo Kiš, W. G. Sebald und David Albahari haben es aus Scham und Schuld, als Auftrag und Aporie durchlitten, wobei jene, die selbst traumatisiert das Lager überstanden, genau wussten, dass sie als Überlebende nicht die wirklichen Zeugen sind. Die, welche ins Gas gingen und die ganze Wahrheit von Auschwitz kennen, konnten nicht sprechen, und die, die sprechen können, kennen die ganze Wahrheit nicht. Das einzig Angemessene wäre Schweigen, doch wichtig bleibt auch das vielstimmige Gespräch.

Man muss nicht selber in Auschwitz gewesen sein, um das Entsetzen und die Trauer zu lernen. Was man über das Schlimmste aller Menschheitsverbrechen erfahren kann, ist überall verfügbar. Jeder denkende und mitfühlende Mensch wird früher oder später darauf stossen. Es braucht Wissen und Konzentration, aber vor allem Empathie und Phantasie – und in ihrer Pflege und ihrer Bewahrung ist es, wo die Gesellschaft ansetzen muss, um moralisch wach und politisch klug zu bleiben. So sehr uns die digitale Welt mit ihrem Universum des Vorformatierten und Vorverdauten das Leben erleichtert, so sehr lässt sie den Muskel der Einfühlung in andere und der eigenen Vorstellungskraft erschlaffen. Die Shoah entstieg dem Bösesten und vermag dennoch das Beste im Menschen zu mobilisieren. Sie wird erst vergessen und verloren sein, wenn allerorten Ignoranz und Aggression, Selbstgefälligkeit und Gleichgültigkeit herrschen. Eine Wiederholung des Unausdenklichen bleibt denkmöglich. Sollte es aber je wieder so weit kommen, wird alles umsonst gewesen sein.

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