Nun ist es schon 2020 passiert: Zum ersten Mal hat die AfD einem Ministerpräsidenten ins Amt geholfen. Und das in Thüringen, wo der AfD-Landesverband von Björn Höcke geführt wird. Dieser Mann, der laut Gerichtsbeschluss "Faschist" genannt werden darf, hat seine Fraktion im Parlament für den Kandidaten der FDP stimmen lassen.

Und da sich offenbar weder aus der CDU noch aus der FDP jemand aus politischen oder gar moralischen Gründen enthielt, hat dies für Thomas Kemmerich gereicht. Es ist schwer einzuschätzen, welcher der wichtigere Grund für die Wahl des FDP-Kandidaten ist: Dummheit oder strategisches Kalkül.

Ein normaler, natürlicher Bündnispartner?

Nach dem, was in den vergangenen Monaten auf der konservativ-liberalen Seite zu hören und zu sehen war, gibt es für beides starke Indizien. Schon jetzt hört man von FDP- und CDU-Anhängern, es hätte doch niemand voraussehen können, dass die AfD ihren eigenen Kandidaten stehen lässt und stattdessen geschlossen FDP wählt. Diese Bräsigkeit ist vielen aus CDU und FDP, die sich in den vergangenen Monaten zum Thema AfD geäußert haben, tatsächlich zuzutrauen. Denkbar ist es aber auch, dass die Thüringer CDU und FDP die Wahl von Thomas Kemmerich durch die AfD geplant haben. Dass sie ein Teil des Versuchs ist, die Partei als einen normalen, natürlichen Bündnispartner erscheinen zu lassen, um im Osten wieder eine strategische Mehrheitsfähigkeit zu gewinnen.

Vielleicht glauben sie, dass sie mit "ihrem" Ministerpräsidenten die politische Blockade lösen und die AfD entzaubern können. Beide Varianten sind beunruhigend. Wenn FDP und CDU tatsächlich nicht damit rechneten, dass Höcke und seine Truppe diese Gelegenheit wahrnehmen würden, sich als Teil eines "bürgerlichen" Lagers darzustellen, dann muss man sich fragen, was die AfD der schwarz-gelben Truppe in den nächsten Jahren noch unterjubeln wird.  

Sollte hingegen alles so geplant gewesen sein, wäre es noch erschütternder. Dann hätten FDP und CDU in der Frage, ob Postkommunisten oder Rechtsradikale gefährlicher für die Demokratie sind, eine richtungsweisende Entscheidung getroffen. Dann hätten die führenden Kräfte in Erfurt nichts von der Gefahr verstanden, die von der radikalen Höcke- und Kalbitz-AfD ausgeht. Dann muss man sich noch größere Sorgen machen.

Wenn die AfD schon heute einem Ministerpräsidenten ins Amt verhelfen kann, ist eines der größten Tabus bereits gebrochen. Eine gemeinsame Regierung, gemeinsame Gesetze, auch AfD-Minister wären keine große Hürde mehr. Dann stehen vielleicht zwei oder drei Ostländer in den nächsten Jahren vor schwarz (-gelb)-blauen Koalitionen. Die Auswirkungen für die politische Statik des Ostens und der Bundesrepublik wären unkalkulierbar. Ganz abgesehen von der Gefahr, dass die AfD ihre Beteiligung an der Macht nutzt, um die abgekämpfte, orientierungslose CDU aus der Führungsposition im ostdeutschen konservativen Lager zu verdrängen.  

Das stärkste Argument gegen die AfD – aufgegeben

Da hilft es nicht, dass CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak in Berlin Neuwahlen für Thüringen fordert, und versucht, sich von Landeschef Mike Mohring zu distanzieren. Das stärkste Argument, nämlich dass die AfD zu rechtsradikal ist, um mit ihr zusammenzuarbeiten, haben die Thüringer FDP und CDU jetzt mit ihrem Verhalten aufgegeben.

Vermutlich wird in den nächsten Tagen auch irgendwer sagen, die ganze Aufregung sei nur Ossi- oder Thüringen-Bashing. Dabei ist das Quatsch. Die Mehrheit der Ostdeutschen hat sich in mehreren Wahlen deutlich gegen die AfD ausgesprochen. Überall, auch in Thüringen, verzeichneten die Amtsinhaber deutliche Stimmgewinne. Es ist ein westdeutscher Faschist (Höcke), der einen westdeutschen Opportunisten (Kemmerich) in Ostdeutschland zum Ministerpräsidenten wählt, dessen Partei in der Wahl auf 5,0 Prozent kam – 73 Stimmen über der Fünfprozenthürde. Ja, im Osten gibt es stärkere Wahlergebnisse für die AfD. Der heutige Tag jedoch zeigt: Das Problem ist nicht in erster Linie der Osten, sondern die moralische Verrohung seiner konservativen Eliten.

Thüringen - Schock bei der Linken, Freude bei der AfD In Thüringen ist überraschend Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Das Video zeigt Ausschnitte aus dem Landtag zur Verkündung des Wahlergebnisses.

Wofür steht ein solcher Konservatismus?

Seit Jahren schon wurde den Ostdeutschen besonders von CDU und FDP immer wieder offen oder verborgen angedeutet, dass es nicht mehr lange dauert, bis die AfD mitregieren wird. Für was steht ein Konservatismus, der mit Höcke kooperiert, um Ramelow wegzubekommen, außer für eine Skrupellosigkeit, die man von den US-Republikanern kennt?

Man hatte sich fast schon an die falsche konservative Behauptung gewöhnt, AfD und Linkspartei seien gleichermaßen gefährliche Parteien. Dass CDU und FDP nun indirekt der AfD sogar den Vorzug vor den Linken geben, das ist eine historische Grenzüberschreitung. Man wird womöglich darum kämpfen müssen, ihre ostdeutschen Verbände im Lager der Demokraten zu halten. Beide Parteien stehen zumindest im Osten nicht mehr für die gesellschaftliche Mitte. So einfach und so bitter ist das.