Kommentar

Ist die Wahl von Thüringen ein Tabubruch, gar ein Skandal? Nein – das ist Demokratie

Es gibt keinen Grund, die Wahl von Thüringen moralisch zu verurteilen. Die deutsche Demokratie hat keinen Schaden genommen. Dass sich der FDP-Kandidat auch von der AfD wählen liess, ist kein Makel.

Benedict Neff, Berlin
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Die überraschende Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten stösst sofort auf breite Kritik in Thüringen.

Die überraschende Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten stösst sofort auf breite Kritik in Thüringen.

Martin Schutt / dpa-Zentralbild

In Erfurt wurde ein FDP-Politiker zum Ministerpräsidenten gewählt, und das Entsetzen in Berlin scheint grenzenlos zu sein. Von einem Tabubruch wird geschrieben, von einer Schande für die Demokratie und einem unentschuldbaren Dammbruch. Die Parteien und viele Journalisten befinden sich gerade in einem Überbietungswettbewerb darum, wer in der Lage ist, die Wahl von Thomas Kemmerich am schärfsten zu verurteilen. Der Grund ist klar: Der FDP-Mann wurde auch mit den Stimmen der Thüringer AfD-Abgeordneten gewählt.

Sich von «Rechtsextremisten» wählen zu lassen, schreibt etwa der sozialdemokratische deutsche Aussenminister Heiko Maas, sei komplett verantwortungslos. Sein Parteikollege und Vorgänger im Amt, Sigmar Gabriel, sieht die Demokratie der Lächerlichkeit preisgegeben. Und selbst Politiker der Union und der FDP schämen sich dafür, was in Erfurt passiert ist.

Die unnötige Scham der Bürgerlichen

Allen, die sich jetzt um die Demokratie sorgen, möchte man sagen: Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen. Im Gegenteil, es ist geradezu irritierend, wenn man sieht, wie sich bürgerliche Politiker von der Union und der FDP genieren und sich öffentlich von ihren Thüringer Kollegen distanzieren.

Anders läge der Fall, wenn Kemmerich nun mit dem Thüringer AfD-Chef eine Regierung anstreben würde. Aber er hat sich von Björn Höcke und dessen Partei eindeutig und unmissverständlich distanziert. Er peilt in Thüringen eine Minderheitsregierung mit der CDU an. Dass er sich von der AfD wählen liess, um seine politischen Ziele zu verfolgen, ist kein Makel. Abgesehen davon liegt es auch nicht an ihm zu sagen, wen die AfD zu wählen hat. Beunruhigend wäre es eher, wenn bürgerliche Politiker in Deutschland nicht mehr kandidieren würden, aus Angst, von der AfD gewählt zu werden.

Man stelle sich vor, die Rechtspopulisten hätten sich einen Spass daraus gemacht und Bodo Ramelow ins Amt gewählt – wäre es dann eine Schande für die Linkspartei gewesen? Gäbe es dann Rücktrittsforderungen, und wäre die Demokratie in Gefahr? Es ist generell problematisch, wenn Politiker haftbar gemacht werden für jene, die sie gewählt haben.

FDP und CDU haben die Chance ergriffen

Da die FDP in Erfurt eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschliesst, wirken auch die kritischen Hinweise auf die deutsche Geschichte unangebracht. Wenn es einen historischen Tabubruch in Erfurt gibt, dann haben ihn die Bürger im Herbst 2019 bei der Parlamentswahl begangen, indem sie die AfD und deren völkische Galionsfigur Björn Höcke als zweitstärkste Partei in den Landtag gewählt haben.

Wenn die CDU und die FDP wie im Fall von Thüringen aber die Möglichkeit sehen, eine eigene Minderheitsregierung zu verwirklichen, anstatt eine linke Minderheitsregierung zu tolerieren (und sei es mit den Stimmen der AfD), dann ist es nur natürlich, die Sache zu erwägen. Moralische Einwände gibt es nicht.

Kemmerichs unbequeme Lage

Eine andere Frage ist, ob die Wahl taktisch klug war. Kemmerichs Vorgänger, Bodo Ramelow, ist in Thüringen äusserst beliebt. Eine Mehrheit der Bürger hätte ihn weiterhin gern als Ministerpräsident gesehen. Ob sie die Überrumpelung durch FDP, CDU und AfD goutieren werden, ist höchst fraglich. Hinzu kommt: Kemmerich fliegen die Herzen nicht gerade zu, nur 5 Prozent der Thüringer wählten die FDP. Dass er den Landesvater Bodo abserviert hat, dürfte seine Beliebtheit nicht steigern. Das werden er und die neue Regierung zu spüren bekommen. Die Linken in Thüringen werden die schwarz-gelbe Regierung bekämpfen, die AfD wird sie vor sich hertreiben, während sich die bürgerlichen Kollegen in Berlin von ihr distanzieren. Die Möglichkeit, dass diese Regierung schon bald scheitert und es Neuwahlen gibt, ist deshalb ziemlich gross.

Die regierungsmüde Berliner Koalition

Angesichts der geballten Empörung könnte Thüringen aber auch zur Zäsur für die Regierungskoalition in Berlin werden. Die Sozialdemokraten instrumentalisieren die Wahl gerade, um gegen ihren Regierungspartner Stimmung zu machen. Das ist besonders absurd, weil viele ihrer Regierungskollegen aus der Union ähnlich empört sind wie sie selbst. Aber es ist auch unglaubwürdig, weil die Wahl von Thüringen zum Skandal nicht taugt. Wenn die Regierung in Berlin an Kemmerich zerbricht, dann würde dies vor allem zeigen, wie regierungsmüde die grosse Koalition schon lange ist.

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