Gastkommentar

Corona und die Werte: Warum es um viel mehr geht als nur um eine gesundheitliche Krise

Das Virus erscheint als biologische Verkörperung einer viel allgemeineren ideellen Krise in unserer Gesellschaft. Jetzt muss sich zeigen, ob das sensible Verhältnis zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohlverantwortung noch tragfähig ist.

Martin Booms
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Hamsterkäufe als Vorsorge in Zeiten des Coronavirus.

Hamsterkäufe als Vorsorge in Zeiten des Coronavirus.

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Die Corona-Epidemie könnte sich zur schwersten globalen Krise ausweiten, die die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat. Dies liegt aber nicht nur – und noch nicht einmal zuerst – an der medizinisch-biologischen Dimension des Geschehens, so ernst diese auch zweifellos zu bewerten ist. Diese gesundheitlichen Folgen des Geschehens sind, wenn auch mit erheblichen Anstrengungen, letztlich in den Griff zu bekommen. Die viel grössere und nachhaltigere Gefahr geht aus von den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und nicht zuletzt moralischen Sekundäreffekten des Geschehens, die sich im schlimmsten Fall von dem Fortgang der eigentlichen Seuche entkoppeln könnten. Sie könnten auch dann noch virulent bleiben, wenn das biologische Virus einmal medizinisch im Griff ist.

Hang zur Dystopie

Denn die Corona-Epidemie trifft – gerade in den westlich-liberalen Gesellschaften – auf einen moralisch und politisch schwer vorerkrankten Patienten, der bereits vorher an allen Symptomen litt, die die gegenwärtige Epidemie nun exponentiell hervortreibt: einem hohen Mass an Orientierungslosigkeit und Verunsicherung, gepaart mit Vertrauensverlust gegenüber etablierten politischen und wirtschaftlichen Strukturen; einem durchgreifenden Hang zur Dystopie, dem der Zukunftshorizont in immer düstereren Farben erscheint und der den klassischen Fortschrittsoptimismus des liberalen Weltverständnisses freiheitsbedrohlich in sein Gegenteil verkehrt; einer Erosion des Konzepts objektiver Wahrheit, die noch den letzten festen Boden allgemein anerkannter Tatsachen ins Wanken gebracht hat.

All diese ideellen Entwicklungen fokussieren sich in der Corona-Krise – angefeuert vom Brandbeschleuniger eines zunehmenden wirtschaftlichen Drucks – wie in einem Brennglas: Das Virus erscheint geradezu als objektivierte biologische Verkörperung einer viel allgemeineren ideellen Krise, die nun ihren gestalthaften Exponenten gefunden hat. Es steht viel mehr auf dem Spiel als die allein schon herausfordernde Aufgabe der gesundheitlichen Bekämpfung einer globalen biologischen Epidemie. Die Corona-Krise zeigt die hohe Anfälligkeit global vernetzter Systeme – aber auch die Notwendigkeit einer solidarischen Zusammenarbeit und des Austauschs auf internationaler und innergesellschaftlicher Ebene.

Jetzt muss sich zeigen, ob das für die Architektur der liberalen Systeme schon immer sensible Verhältnis zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohlverantwortung, das in letzter Zeit immer mehr in Richtung der Vereinzelung, Isolierung und Abschottung umgekippt ist, noch tragfähig ausgelotet ist. Denn die Corona-Krise wird sich nur bewältigen lassen auf dem Boden eines Werteverständnisses, das das Eigeninteresse gerade dadurch befördert sieht, dass es sich am Gemeininteresse orientiert und darin aufgehoben ist: eine Wertevorstellung, die ursprünglich sowohl der liberalen Marktordnung als auch dem politischen und gesellschaftlichen Liberalismus als Ausdrucksformen eines umfassenden Humanismus eingeschrieben war.

Corona-Krise – Risiko und Chance

Die Corona-Krise ist daher nicht weniger als ein Lackmustest für die Haltbarkeit dieses Werteversprechens an einem konkreten Exempel: Werden etwa Vermieter von Geschäftsräumen bereit sein, auf vertragliche Ansprüche zu verzichten und Mieten zu stunden, wenn es zu existenzbedrohenden Geschäftsschliessungen kommt? Werden die wirtschaftlich soliden Staaten bereit sein, volkswirtschaftlich gefährdeten Ländern mit Hilfspaketen unter die Arme zu greifen? Werden Menschen aus Verantwortungssinn ihre persönliche Freiheitsentfaltung einschränken, um einen Beitrag zur Verminderung des Ansteckungsrisikos für Risikogruppen zu leisten?

Scheitern wir an dieser Herausforderung, die elementar eine Frage der Wertehaltung betrifft, dürfte das Coronavirus mehr infizieren als das Immunsystem von Menschen. Dann besteht die Gefahr, dass es in kurzer Zeit die Erosion der liberal-westlichen Strukturen und der liberal-westlichen Weltanschauung bis an den Rand des Zusammenbruchs vorantreibt. Aber auch umgekehrt gilt: Gelingt es angesichts der gesundheitlichen Krise, sich auf die längst brüchig gewordenen ideellen Fundamente des westlich-liberalen Verständnisses zurückzubesinnen, liegt am Ende in dem biologischen Problem eine gesellschaftliche Chance. Dann nämlich könnte ausgerechnet die Corona-Krise jene politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte eindämmen, die in jüngster Zeit nicht den Geist des Humanismus und der Solidarität, sondern denjenigen der Spaltung, des Ausschlusses und der Priorisierung falsch verstandener Eigeninteressen vorangetrieben haben.

Nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern jeder und jede Einzelne ist daher jetzt aufgerufen, den eigenen Wertekompass zu überprüfen und sich in dieser Frage zu bekennen. Scheitern die westlichen Gesellschaften an dieser moralischen Aufgabe, scheitern sie am Ende auf ganzer Linie. Mehr noch als im Falle des biologischen Virus haben wir es selbst in der Hand, das hochansteckende ideelle Virus, das sich viel zu lange ungebremst in den westlichen Gesellschaften ausgebreitet hat, zu stoppen.

Martin Booms ist geschäftsführender Direktor der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn.