Kommentar

Es geht jetzt viel um Verhaltensregeln, aber viel zu wenig um die Älteren und Gefährdeten und ihre Eigenverantwortung: Nur, wenn sie sich selbst schützen, werden sie nicht die Spitäler überlasten

Warum der Bund diese Personengruppe nicht mehr und deutlicher in die Pflicht nimmt, ist unverständlich.

Alan Niederer
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Der Bund hat seine Strategie richtigerweise geändert und verwendet die wertvollen Ressourcen nun, um besonders gefährdete Personen vor einer Infektion zu schützen.

Der Bund hat seine Strategie richtigerweise geändert und verwendet die wertvollen Ressourcen nun, um besonders gefährdete Personen vor einer Infektion zu schützen.

Alessandro Crinari / Keystone

Der Bundesrat und das federführende Bundesamt für Gesundheit (BAG) machen in der Corona-Krise vieles richtig. Es ist nicht einfach, bei einem so dynamischen Prozess wie einer Pandemie zur richtigen Zeit die richtigen Massnahmen zu verhängen. Greift man zu früh zu drastischen Mitteln wie einer allgemeinen Ausgangssperre, legt man unnötigerweise das Wirtschafts- und Sozialleben im Land lahm. Ist man zu zögerlich und gehen die Massnahmen zu wenig weit, droht der Kollaps des Gesundheitssystems. Dann sterben viele Erkrankte, die sonst hätten gerettet werden können.

In solch volatilen Zeiten gibt es für die Regierung nur ein zielführendes Verhalten. Sie muss Tag für Tag die Situation weltweit und im Land analysieren und ihre Massnahmen und Empfehlungen zuhanden der Behörden und der Bevölkerung laufend anpassen. Das haben Bundesrat und BAG in den letzten Wochen gemacht. Der Vorwurf, sie hätten früher und aggressiver auf die Bedrohung durch das neue Coronavirus reagieren müssen, stammt meist von Kreisen, die nicht das gesamte Wohl des Landes im Auge haben, sondern Partikularinteressen.

Denn wenn das einzige Ziel darin bestehen würde, der Pandemie in der Schweiz keinen Nährboden zu geben, dann hätte man schon beim ersten Fall die gesamte Bevölkerung in Quarantäne stecken müssen – und die Polizei hätte darüber gewacht, dass niemand das Haus verlässt. Eine solche Strategie wäre zu Recht von den allermeisten nicht verstanden worden. Auch deshalb nicht, weil bei einem neuen Virus, gegen das die Bevölkerung keinen Immunschutz hat, mit einer relativ hohen Durchseuchung gerechnet werden muss.

Leichter übertragbar als gedacht

Zu Beginn des Ausbruchs haben die Behörden versucht, mit Contact-Tracing – dabei werden nicht nur erkrankte Personen isoliert, sondern auch ihre engen Kontaktpersonen – die Infektionsketten zu unterbrechen. Das war richtig, solange die Hoffnung bestand, die Epidemie in der Schweiz stoppen zu können. Dass das nicht gelungen ist, hat vor allem mit den Eigenschaften des Virus zu tun. So ist es besser übertragbar, als man das zu Beginn der Epidemie angenommen hat.

Der Bund hat danach seine Strategie richtigerweise geändert. Fortan sollten die wertvollen Ressourcen nicht mehr eingesetzt werden, um jede einzelne Übertragungskette aufzuspüren. Es galt jetzt nur noch, besonders gefährdete Personen vor einer Infektion zu schützen: Senioren und Personen mit chronischen Krankheiten. Denn diese Menschen können nach einer Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus schwer erkranken und sogar sterben. Kinder und jüngere, gesunde Personen erkranken dagegen, wenn überhaupt, meist nur leicht.

So weit, so gut. Kritisieren muss man den Bund allerdings dafür, dass er bei der Kommunikation der jetzt gültigen Verhaltensregeln eine Botschaft unter den Teppich kehrt: die Verantwortung der vulnerablen Personen selbst. Dieses Versäumnis sorgt in der Bevölkerung für erhebliche Verunsicherung und lässt Nebenthemen wie etwa die vermeintliche Gefahr von Bargeld spriessen.

Verschiedene Verantwortlichkeiten

Eigentlich ist es offenkundig: Wenn Senioren und Chronischkranke nicht an Covid-19 erkranken und die Spitäler verstopfen sollen, dann ist es in erster Linie ihre Verantwortung, alles vorzukehren, damit sie sich nicht mit dem Virus anstecken. Für selbständige (vulnerable) Personen bedeutet das, dass sie möglichst zu Hause bleiben – und wenn sie nach draussen gehen, den geforderten Abstand zu anderen Personen einhalten. Verletzliche Personen in Institutionen müssen aktiv vor anderen Personen geschützt werden, indem man zum Beispiel ihren Besuch auf ein absolutes Minimum reduziert.

Erst in zweiter Linie sind die jungen und gesunden Personen gefordert. Hier geht es um die vielgepriesene Solidarität. Die Hauptverantwortung der Jungen und Gesunden liegt darin, keine vulnerablen Menschen anzustecken. Wenn sie dagegen andere junge und gesunde Personen anstecken, ist das kaum ein Problem – solange die Schutzmauer zwischen Jung und Alt sowie zwischen Gesund und Krank (auch junge Personen können chronische Krankheiten haben) funktioniert. Und darum geht es bei den geforderten Verhaltensregeln.

Warum der Bund hier nicht mehr Klartext spricht, ist unverständlich. Man hat den Eindruck, dass bei der Ausarbeitung der Empfehlungen so lange gefeilt wurde, bis eine in alle Richtungen austarierte Version vorlag. Hat man Angst, jemandem auf den Schlips zu treten? Das erinnert an eine frühere Sensibilisierungskampagne der Aids-Hilfe Schweiz. Auf dem Plakat war eine nette Grossfamilie abgebildet, von der Grossmutter bis zum Kleinkind. Dazu stand: «Aids kann jeden treffen!» Auch das stimmt natürlich – aber auch nur bedingt. Denn die durchschnittliche Grossmutter hat mit der HIV-Epidemie weniger zu tun als der durchschnittliche, sexuell aktive homosexuelle Mann. Letzteren mit Präventionsbemühungen zu erreichen, bringt deshalb mehr, als die gesamte Bevölkerung pastoral zur Solidarität zu ermahnen.

Beim Thema HIV und Aids hat das BAG von Anfang an – zum Teil schwer ertragbaren – Klartext gesprochen. Damit hat es nicht nur die Epidemie in den Griff bekommen, sondern sich auch international einen Namen gemacht. Eine solche Haltung mit mehr fokussierten Botschaften würde man sich auch in der Corona-Krise wünschen.