Applaus vom Balkon reicht nicht – Seite 1

Dieser Tage bedanken sich im Minutentakt Menschen für den Einsatz von Pflegekräften, Kassiererinnen und Erziehern. Gesundheitsminister Jens Spahn hat sogar gesagt: "Schenken Sie der Verkäuferin im Supermarkt ein Lächeln. Schenken Sie dem Lkw-Fahrer, der Tag und Nacht Waren für Sie fährt, einen freundlichen Wink. Und schenken Sie denjenigen, die gerade unter Stress für Ihre Gesundheit arbeiten, Geduld und Mithilfe." In Köln und anderen deutschen Städten verabreden sich nach spanischem Vorbild Bürger abends auf Balkonen und applaudieren lautstark, um ihre Dankbarkeit für das Personal in Krankenhäusern auszudrücken. In Graz haben Fußballfans in der Stadt Plakate mit der Aufschrift "Vom Supermarkt bis zum Krankenhaus, was ihr leistet, verdient Applaus" aufgehängt.

Das sind tolle Bilder und schöne Zeichen, zeigt sich in Ausnahmesituationen doch oft, was wirklich wichtig ist. Die Lehre der Finanzkrise von 2008 war, dass es Banken gibt, die systemrelevant sind. Sie galten als too big to fail, also als zu groß zum Scheitern. Die Folgen ihres Zusammenbruchs wären für die Gesellschaft fatal gewesen. Der Staat musste damals einspringen und sich weitreichend verschulden, um die Banken zu retten.

Nicht nur Banken sind systemrelevant

Zwölf Jahre später zeigt die Corona-Krise: Nicht nur Banken, sondern auch Krankenhäuser, Stadtreinigungen und Supermärkte sind systemrelevant. Ohne Intensivpflegerinnen, Lkw-Fahrer, Müllmänner und Rettungssanitäterinnen würde unser System nicht funktionieren. Ohne sie würde Chaos ausbrechen. Sie sorgen dafür, dass Corona-Infizierte behandelt werden. Dass Lebensmittel und Medikamente vorhanden sind. Oder dass sich Menschen sicher fühlen können. Sie selbst stehen dabei in ständigem Menschenkontakt, leben mit der Gefahr, sich anzustecken. Und sind dabei oft nicht ausreichend geschützt, weil Desinfektionsmittel und Schutzmasken fehlen, die anderswo gehortet werden.

Was wir in der Krise tun können

Doch es reicht nicht, sich jetzt einfach bei diesen Menschen zu bedanken. Es genügt nicht, ein paar Zeilen in sozialen Netzwerken zu posten oder am Balkon zu stehen und zu klatschen. Es braucht endlich umfassende Maßnahmen, um diesen Berufsgruppen mehr Wertschätzung entgegenzubringen. In der Krise hilft Solidarität auch von Nachbarn, Freundinnen und Verwandten. Unterstützen Sie die Menschen, die gesellschaftlich wichtig sind, bei ihren Einkäufen und sorgen Sie dafür, dass sie sich erholen können.

Und wenn sich die Krise länger hinzieht, sollte es ähnlich wie 2008 einen Rettungsfonds geben. Mit staatlichen Subventionen für Krankenhäuser, Arztpraxen und andere Betriebe, die derzeit unentbehrlich sind. Dazu gehören auch Mittel, die das Personal entlasten.

Was wir nach der Krise tun können

Bisher zählen ausgerechnet die jetzt so wichtigen Berufe zu den besonders undankbaren, gemessen am Einkommen, an Risiken für die Gesundheit, an Überstunden und der körperlichen Belastung. Das zeigt eine Umfrage des Vergleichsportals Gehalt.de aus dem Jahr 2018 unter knapp 9.000 Personen. Demnach empfinden besonders Pflegefachkräfte ihren Job als besonders undankbar. Gefolgt von Paketbotinnen, Erzieherinnen und Müllmännern.  

Ein weiteres Problem ist der große Personalmangel in vielen dieser Berufe – allein in der Pflege gibt es 17.000 offene Stellen. Die Folge: Die Arbeitsbedingungen sind häufig schlecht. Es kommt zu umfangreichen Überstunden und Dauerstress. Viele Angestellte klagen über Burn-out aufgrund der dauerhaft unterbesetzten Schichten. Oft geraten Beschäftigte an ihre Belastungsgrenze.

Entlastung für alle

Durch das Coronavirus und die daraus entstehenden Belastungen für diese Berufsgruppen wird sich dieser kritische Zustand verschärfen. Wir sollten dafür sorgen, dass die Beschäftigten Überstunden ausgleichen können, Arbeitszeiten eingehalten werden und dass sie mehr Urlaubstage bekommen. Es braucht Tarifverträge für alle Menschen in diesen Berufen. Nicht nur in der Klinik, auch Lkw-Fahrerinnen und Kassierer benötigen diese Absicherungen.

Herrscht systematischer Personalmangel wie bei Erzieherinnen oder in der Pflege, braucht es gezielte Einwanderung. Anders wird man das Personal nicht entlasten können. Wenn möglich, sollten die Angestellten auch flexible Arbeitszeitmodelle und Aufstiegschancen erhalten. Und nach jahrzehntelanger körperlicher Arbeit die Möglichkeit einer Umschulung.

Nicht zuletzt brauchen sie die Aussicht auf eine Rente in Würde, auf eine Perspektive ohne Altersarmut. Wenn Berufe systemrelevant sind, sollte sich das in ihrem Gehalt, den Arbeitsbedingungen und der Rente widerspiegeln. Wir sollten das auch nach der Corona-Krise nicht vergessen.