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Henrik Müller

EU-Ratspräsidentschaft Merkels letzte Chance

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Über Jahre hat die Bundeskanzlerin die chronischen Probleme der EU und des Euro so weit wie möglich von sich geschoben. Gegen Ende ihrer politischen Karriere hat sie nun die Möglichkeit, alte Versäumnisse gutzumachen.
Angela Merkel

Angela Merkel

Foto: Janine Schmitz/ Photothek via Getty Images

Kein anderes Problemfeld hat für so viel wirtschaftliche Verunsicherung in Deutschland gesorgt wie die wacklige Lage der EU. Hält Europa zusammen? Zerbricht der Euro? Schließen sich wieder die Grenzen? Steigen nach Großbritannien weitere Länder aus der EU aus? Bleibt die EU zusammen, oder zerlegt sie sich angesichts der Coronakrise?

Die Zweifel an der Tragfähigkeit des Projekts der europäischen Integration, die immer wieder aufflackernde Möglichkeit des Scheiterns, die Gefahr eines Zerfalls unseres Binnenmarkts und unserer Währung - das waren zentrale Unsicherheitsmomente der zurückliegenden zehn Jahre. Kein anderer Faktor hat so viel wirtschaftliche Verunsicherung hierzulande verbreitet, wie wir in einer gerade erschienenen Studie  zeigen.

Dass es so weit kommen konnte, daran hat Deutschland selbst keinen geringen Anteil. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise in den Jahren 2010 bis 2012 verweigerte Kanzlerin Angela Merkel einen großen Akt europäischer Solidarität. Sie legte weder einen Plan vor, noch verkündete sie eine kühne Vision. Bei der Energiewende 2011 und bei der Flüchtlingskrise 2015 handelte die Bundesregierung zunächst im nationalen Alleingang. Ein Muster, das sich im Zuge der Coronakrise wiederholen sollte.

Die zurückliegenden europäischen Krisen hätten für "bittere Konflikte", "Verletzungen", "Missverständnisse" und "Fehleinschätzungen" gesorgt, bekannte Merkel kürzlich in einer Regierungserklärung . Das ist, immerhin, nicht untertrieben.

Nun übernimmt Deutschland am Mittwoch turnusgemäß für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Es ist eine historische Chance - und ein enormes Risiko.

"The Germans are running the show”

Merkels vierte Regierung hat gegen Ende ihrer Amtszeit die seltene Gelegenheit, frühere Fehler auszubügeln. In den langen Krisenjahren seit 2008 haben Merkels Bundesregierungen die besondere Verantwortung von sich gewiesen, die aus der Größe und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dieses Landes erwächst, gerade angesichts der zeitweisen Schwächen der EU-Partner. Nun, endlich, scheint Merkel diese Rolle anzuerkennen. Deutschland sei "zum Führen verdammt", schrieb dieser Tage die britische Zeitschrift "Economist". Und genau das passiere gerade in Brüssel: "The Germans are running the show."

Aber dafür muss die Kanzlerin nun Positionen vertreten, auf die sie weder die Bundesbürger noch die Partner in Europa vorbereitet hat. Konkrete Schritte hin zu mehr europäischer Integration (und Umverteilung) waren für sie bis vor Kurzem kein Thema. Emmanuel Macron mit seinen hochfliegenden Europaplänen hat sie auflaufen lassen. Zu ambitioniert - und damit politisch zu risikoreich. Vieles von dem, was nun ansteht, widerspricht sogar ihren früheren Aussagen und erklärten Zielen. Entsprechend groß ist das populistisch ausschlachtbare Frustpotenzial.

Denn nun steht genau das an: ein großer Akt europäischer Solidarität in Form eines massiv aufgestockten EU-Haushalts, der unter anderem ein Corona-Aufbauprogramm von einer Dreiviertelbillion Euro enthalten soll, finanziert durch gemeinsame Schulden. Zusammen mit Macron hat sie das Paket auf den Tisch gelegt; Konsens unter den 27 Mitgliedstaaten gibt es darüber noch nicht.

Der Wiederaufbauplan ist so ziemlich das Gegenteil der Positionen, für die insbesondere der christdemokratische Teil der Bundesregierung in den vergangenen Jahren stand: keine "Transferunion", keine "Schuldenunion", keine "Haftungsunion". Jeder Mitgliedstaat solle seine "Hausaufgaben" machen. Das war schon früher eine unhaltbare Linie, die die Bundesregierung immer wieder selbst übertreten musste, etwa als sie dem Euro-Rettungsschirm ESM zustimmte oder die EZB-Anleihekäufe akzeptierte. Es ging gar nicht anders. Ohne diese Maßnahmen wäre die Währungsunion längst explodiert, und wir Europäer würden in einer schlechteren Realität leben.

Podcast Cover

Dass Merkel plötzlich selbst eine große Aufstockung der EU-Transfers vorschlägt, kam denn auch überraschend. Es kann schon sein, dass nach den Verheerungen der Coronakrise nun der Punkt gekommen ist, an dem es tatsächlich um die Existenz der EU geht. Scheitern Italien, Spanien oder Frankreich - weil frustrierte Bevölkerungen dort Populisten an die Macht wählen -, dann scheitern der Binnenmarkt, die gemeinsame Währung und damit auch Deutschland.

Aber diese Gefahr ist längst real, seit Jahren schon hängt sie über Europa, siehe die eingangs erwähnte Dauerverunsicherung. In Italien und Spanien regieren bereits populistische Parteien mit. In Frankreich hatte die Nationalistin Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2017 eine realistische Chance. Warum erst jetzt? Warum nicht früher? Und: Reicht Merkels Kursschwenk aus, um Europa zu stabilisieren?

Überstehen wir die 2020er-Jahre heil?

Die Kanzlerin kann bei dieser Ratspräsidentschaft Dinge vorantreiben, vor denen Politiker üblicherweise zurückscheuen. Normalerweise ist der rotierende Vorsitz im Ministerrat eine Bürde. Der jeweilige Regierungsapparat ist dann mit europäischen Angelegenheiten stark belastet. Für heimische Anliegen bleibt wenig Zeit. Wer den Vorsitz hat, muss im Zweifel bei schwierigen Fragen selbst mit Kompromissbereitschaft vorangehen, auch wenn das beim Publikum daheim nicht gut ankommt.

Doch dieses Mal ist vieles anders. Es ist eine ziemlich ungewöhnliche Konstellation. Merkel ist erklärtermaßen am Ende ihrer politischen Karriere angekommen. Sie will nicht wiedergewählt werden. Deshalb muss sie keine große Rücksicht mehr aufs heimische Publikum nehmen, sondern kann die Ratspräsidentschaft nutzen, um Projekte voranzutreiben, die das heimische Publikum, zumal seinen konservativen Teil, nicht gerade zu Begeisterungsstürmen anstacheln.

Dazu kommt: Merkel regiert in einer Koalition, die im Koalitionsvertrag einen "neuen Aufbruch für Europa" verabredet hat, samt allerlei Versprechen von "Solidarität" und "Gerechtigkeit". Beim früheren Koalitionspartner FDP war das ganz anders; auf dem Höhepunkt der Eurokrise stand stets die Frage im Raum, ob mehr Mut in Sachen Europapolitik nicht zugleich die Koalition mit den ökonomisch orthodoxen Partnern daheim sprengen würde.

Es ist sonst niemand da

Innerhalb der EU ist Merkels Position derzeit so stark wie lange nicht. Während sie sich im eigenen Land Umfragewerten erfreut, von denen sie und ihre Partei vor einem halben Jahr wohl nicht zu träumen gewagt hätten, sind in den anderen großen Eurostaaten schwache Regierungen im Amt: Frankreichs Präsident Macron ist angezählt, wie seine miserablen Umfragewerte zeigen. In Italien und Spanien regieren unerfahrene Regierungen mit wackligen Mehrheiten.

In dieser Lage funktioniert die übliche deutsche EU-Strategie des Abwartens nicht mehr. Es ist einfach niemand anderes da, der die Initiative ergreifen könnte. Entweder die Bundesregierung nimmt die Dinge in die Hand. Oder Europa scheitert womöglich tatsächlich.

Allerdings ist der Erfolg keineswegs garantiert. Merkels Kursschwenk hat viele irritiert. Dass die "sparsamen Vier" - Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden - Widerstand gegen das Corona-Paket leisten, liegt auch daran, dass sie mit der neuen deutschen Position hadern. Schließlich ist es noch gar nicht so lange her, dass die Bundesregierung selbst ganz ähnliche Positionen vertrat.

Und dabei ist längst klar, dass es bei einem zeitlich befristeten Post-Corona-Aufbauprogramm nicht bleiben kann. Die EU braucht mehr Föderalismus, einen viel größeren dauerhaften Zentralhaushalt, mehr Demokratie auf europäischer Ebene. Andernfalls wird weder die Eurozone künftige Krisen überstehen, noch wird Europa in die Lage kommen, schlagkräftige gemeinsame Streitkräfte aufzubauen - eine Aufgabe, die mit dem angekündigten Teilabzug von US-Truppen aus Deutschland noch dringlicher wird.

Um dieses Jahrzehnt heil zu überstehen, muss sich die EU viel weiter und rascher entwickeln als im zurückliegenden Jahrzehnt. Es stehen viele ziemlich einschneidende Fortentwicklungen an. Die Widerstände werden beträchtlich sein, innerhalb Deutschlands und innerhalb der EU. Aber damit können sich dann Merkels Nachfolger herumschlagen.

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