Kommentar

Willkommen in der Realpolitik: Warum der amerikanische Truppenabzug für Deutschland mehr Chance als Strafe ist

Jahrzehntelang stand die Bundesrepublik unter dem Schutz der USA. Aus dieser Position liess es sich wunderbar für den Frieden eintreten und gegen Militarismus wettern. Nun zieht sich die Weltmacht zurück – und die «Friedensnation» Deutschland muss erwachsen werden.

Marc Felix Serrao, Berlin 123 Kommentare
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Auf dem Absprung: Amerikanische Fallschirmjäger bei einer Militärübung in der Nähe des deutschen Städtchens Grafenwöhr in der Oberpfalz.

Auf dem Absprung: Amerikanische Fallschirmjäger bei einer Militärübung in der Nähe des deutschen Städtchens Grafenwöhr in der Oberpfalz.

Matej Divizna / Getty

Jetzt ist es bekannt: Die Amerikaner ziehen knapp 12 000 Soldaten aus Deutschland ab. Das ist etwa jeder Dritte. Dazu kommt wohl der Abzug zweier Kampfkommandos, des Europa-Kommandos und des Afrika-Kommandos, die beide Stuttgart verlassen sollen. Ein tiefer Einschnitt. Die Verlierer sind die Deutschen, weil sie nicht genug fürs Militär ausgeben und weil Präsident Trump Kanzlerin Merkel nicht mag – so könnte man diese Entscheidung interpretieren. Das wäre nicht völlig falsch, aber unvollständig.

Zum einen muss sich Trump in wenigen Monaten zur Wahl stellen, und falls der Demokrat Biden gewinnt, könnte dieser die Um- und Abzugspläne gleich wieder stoppen. Wahrscheinlich ist das nicht, aber auch nicht unmöglich. Zum anderen haben im Pentagon und im Generalstab der USA Profis das Sagen. Trump mag Oberbefehlshaber sein. Aber auch er kann seinem sicherheitspolitischen Establishment keinen Quatsch abverlangen.

Wer nicht hören will, muss fühlen?

Natürlich freut sich der Präsident, wenn die Weltöffentlichkeit den Truppenabzug als Strafe für Deutschland interpretiert, jenes Nato-Partnerland, das seit langem deutlich weniger als die vereinbarten 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt. Er selbst hat den Beschluss vorab mit Berlins mangelhafter Zahlungsmoral begründet. Wer nicht hören will, muss fühlen: Diese Botschaft darf, wenn es nach Trump geht, auch unter Amerikas Verbündeten gerne die Runde machen.

Doch bei näherer Betrachtung ist die Strafe in Wahrheit Teil einer grösseren strategischen Neuorientierung, die sich schon vor Trump abgezeichnet hat und wenig mit Europa und dafür viel mit dem Ziel der Eindämmung Chinas im Indopazifik zu tun hat. Amerikas Verteidigungsminister Mark Esper mag noch so sehr betonen, dass die Truppenbewegungen vor allem dem Ziel dienten, Russland abzuschrecken. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Von den abgezogenen Truppen soll mehr als die Hälfte in die USA zurückkehren. Einige mögen später im Rotationsverfahren nach Europa zurückkommen. Aber unter dem Strich zieht sich Amerika mit einem Teil seiner Truppen von diesem Kontinent zurück.

Putin kann sich entspannen

Und die möglichen Truppenverlegungen nach Polen, ins Baltikum oder Richtung Schwarzes Meer? Muss sich Russland davon nicht provoziert fühlen? Zumindest ist es unwahrscheinlich, dass Moskau die Gelegenheit verstreichen lässt, sich als Opfer vermeintlicher amerikanischer Aggression zu inszenieren und mit dem Säbel zu rasseln. In Wahrheit kann sich Wladimir Putin entspannen: Er hat vielleicht bald ein paar Amerikaner mehr direkt vor der Haustür, aber deutlich weniger im Vorgarten. Ausserdem kann er darauf hoffen, dass Amerikas Ab- und Umzugspläne in Europa für Streit sorgen.

An dieser Stelle kommt Deutschland wieder ins Spiel. Auf den ersten Blick mag Trump das Land bestraft haben. Doch in Wahrheit eröffnet der Truppenabzug eine Chance: All jene Realpolitiker, die seit Jahren gegen die teils pazifistische, teils amerikafeindliche Mehrheitsmeinung in Deutschland anreden, sind nun zur Abwechslung im Vorteil. Was, können sie fragen, wird wohl passieren, wenn die dominante Nation Europas ab- statt aufrüstet, während sich die USA zurückziehen? Wie wird Russland auf eine solche Appeasementpolitik reagieren – jene Grossmacht, die mit hybrider Kriegsführung, Hackerangriffen und Fake-News-Kampagnen Zwietracht sät?

Deutschland muss sich entscheiden: Will es das wohlige Gefühl bewahren, eine «Friedensnation» zu sein? Das hat bisher bedeutet, dass andere den Frieden sichern. Oder springt das Land über seinen Schatten, der über der Vergangenheit liegt, und sichert selbst den Frieden für sich und seine europäischen Partner?

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Arnold Ganz

Deutschland hat den seit Jahrzehnten gepflegten Anti-Amerikanismus nicht mehr unter Kontrolle. Der Grundstein für das gegenseitige Misstrauen zwischen den Amerikanern und Deutschland, wurde auf höchster Ebene in der Regierung von Frau Merkel gelegt. Seit der von Frau Merkel ausgerufenen Willkommenskultur 2015, stand das moralische Überlegenheitsgefühl in Deutschland auf einem Höhepunkt. So konnte im amerikanischen Wahlkampf-Sommer 2016 nichts anderes erwartet werden, als dass der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Deutschlands, Steinmeier SPD, in völlig undiplomatischer Weise gegen Donald Trump polemisierte, im irrigen Glauben, dass der so wie so nicht gewählt werde. Er wurde aber gewählt, und damit war der Grundstein in der künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA gelegt. Leider hat es Frau Merkel nicht verstanden, und wohl auch nicht gewollt, die die Risse im Fundament der gegenseitigen Beziehungen so gut wie möglich zu reparieren. Niemand hat die Bilder in den Medien vergessen, als sich Trump und Merkel anlässlich eines Staatsbesuchs im Weissen Haus in ablehnender Haltung gegenüber saßen. Der Scherbenhaufen ist bis heute nicht weggeräumt. Er bleibt solange liegen, wie es den SPD-Bundespräsidenten, Frau Merkel als Kanzlerin und einen SPD-Aussenminister gibt.

Thomas Meyer

Man muss der NZZ ein grosses Lob aussprechen dieses Thema hier anzusprechen und zur Diskussion zu stellen. In der FAZ gestern, ein kärgliches Kommentärchen von Herausgeber Kohler, der, wie immer nicht kommentiert werden konnte. Dazu erübrigt sich jedwede Bemerkung. Er faselt etwas von Rache Trumps an Deutschland, statt auf den Kern der Sache zu kommen, nämlich dass Deutschland den Antiamerikanismus zur Staatsräson ausgerufen hat. Auch kein Wort darüber dass Frau Merkel höchstpersönlich als Ursache für Trumps Entscheidung gilt. Von der führenden deutschen Zeitung kann man mehr erwarten. Stattdessen tut das die NZZ mit Herr Serrao.  

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