Leitartikel
Ein Herz für die Schweiz: Wir sind solidarisch und lieben die Freiheit - damit können wir uns gegen das Virus behaupten

Macht die Schweiz in der Corona-Krise alles richtig? Vermutlich nicht. Dennoch zeigt sich, dass unser Land über wichtige Stärken verfügt. Eine davon ist die schweizerische Haltung zur Freiheit und zur Solidarität. Ein guter Grund, diesen etwas beklemmenden 1. August zu feiern – wenn auch etwas demütiger als sonst.

Pascal Hollenstein
Pascal Hollenstein
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Illustration: Tom Werner

Die Schweiz feiert unter Umständen Geburtstag, die dieses Land seit Menschengedenken nicht gekannt hat. Eine Seuche ist über die Eidgenossenschaft gekommen und sie hat unsere sozialen, politischen und kulturellen Gewohnheiten beschädigt. Wir sind in eine schwere Rezession getaumelt, die politischen Spannungen werden unausweichlich zunehmen. Spätestens dann, wenn klar wird, dass man nicht jeden Graben mit Geld zuschütten kann.

Und auch das Feiern selber will unter den gebotenen Sicherheitsvorkehrungen nicht recht gelingen. Viele Festivitäten sind abgesagt, Lampions gibt es vielerorts nur auf dem privaten Balkon.

Manch einer stellt sich in diesen Tagen die Frage: Ist nicht nur unsere Gesundheit gefährdet oder unsere Wohlfahrt, sondern die Freiheit selber? Die Diskussion hat sich zunächst am Demonstrationsverbot entzündet, unmittelbar nach den ersten Massnahmen des Bundesrats gegen Covid-19.

Die Meinungsäusserungsfreiheit war damit zumindest teilweise eingeschränkt, genauso wie die Handels- und Gewerbefreiheit oder die Bewegungsfreiheit. Die Diskussion ist nicht abgeebbt, seit Bund und Kantone ihre Massnahmen schrittweise gelockert und adjustiert haben. Denn: Ist nicht alleine der Zwang, im öffentlichen Verkehr eine Maske zu tragen, ein Eingriff in die Freiheitsrechte eines Bürgers?

Die Erzählung einer planmässigen Zerstörung der Freiheit

«Wir wollen frei sein, wie die Väter waren», heisst es in Schillers «Tell», jenem romantischen Gründungsepos der Eidgenossenschaft, das so oft zitiert und so oft politisch missbraucht wird. Der Kampf um und für die Freiheit gehört gleichwohl konstitutiv zum Selbstverständnis unseres Gemeinwesens. Ist sie gefährdet, gar schon der Unfreiheit gewichen?

In den vergangenen Wochen hat sich in wachsenden Teilen der Gesellschaft eine Erzählung etabliert, die das Bild einer planmässigen Zerstörung der Freiheit im Zusammenhang mit den Massnahmen gegen das Coronavirus malt. Corona, so der Tenor, sei letztlich bloss ein Vorwand oder doch zumindest ein willkommener Anlass, um die Menschen in diesem Land – und global – zu gängeln.

Man findet diese Angst nicht nur in den irren Theorien einiger Exponenten auf den so genannten Sozialen Medien. Die Sorge, es könnte in der Krise ein übermächtiger Bemutterungsstaat entstehen, der den Bürgerinnen und Bürgern die Luft nimmt, ihr Leben selber zu gestalten, ist weit verbreitet. Die Bedenken muss man ernst nehmen. Der Staat hat stets die Tendenz, seinen Wirkungskreis auszudehnen. Das muss nicht einmal aus bösem Willen geschehen, denn oft genug meint es die Politik im Grunde ja nur gut und will bloss helfen.

Die Kraft der direkten Demokratie

Nur: Genau das ist das süsseste Gift für die Freiheit. Nicht immer, aber oft hat das Volk solchen Vereinnahmungen durch den Staat indes eine Absage erteilt. Man kann sagen: Die direkte Demokratie ist gewiss das probateste Mittel gegen immer mehr Einschränkungen des selbstbestimmten Lebens. Und sie dürfte auch wirken gegen das, was die «NZZ» etwas überspitzt als aufziehenden «Seuchen-Sozialismus» bezeichnet hat.

Nicht jeder Kampf für das, was «Freiheit» genannt wird, ist auch ein guter. Der grosse deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel - ein oft Missbrauchter auch er - hat es einst auf den Punkt gebracht:

Wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiss nicht, was er redet.

Freiheit, so Hegel, sei nicht einfach das zu tun, was man wolle, sondern das tun zu können, was nach allerbestem Nachdenken als vernünftig erscheine. Dies schliesst auch den Irrtum ein, aber eben nicht blosse Willkür. «Der Wille», so Hegel weiter, «ist nur als denkender frei.»

Hegel starb vermutlich an einer Seuche, der Cholera. Wie er heute die Grenze zwischen individuellen Freiheitsrechten und seuchenpolizeilichen Massnahmen ziehen würde, bleibt Spekulation. Gewiss würde er aber nicht jeden staatlichen Akt verurteilen, der darauf zielt, die Gesundheit der Menschen zu schützen.

Und womöglich würde er sich über Personen ärgern, die es als ihr Freiheitsrecht ansehen, andere an Leib und Leben zu gefährden. Oder die glauben, eine App, die persönlich Daten weit mehr schützt als es die klaglos benutzten Produkte der Tech-Giganten aus Übersee, müsse mit einem Referendum bekämpft werden.

Heute auf Freiheit verzichten, um sie für die Zukunft zu erhalten

Ob hier der politische Wille wirklich «als denkender frei» ist, kann man sich füglich fragen. Vernunft kann bedeuten, auf die Ausübung von Freiheit in der Gegenwart zu verzichten, um sie für die Zukunft zu erhalten.

Wir begehen den 1. August 2020 in einer beklemmenden Lage. Ob sich im Nachhinein der bisherige Schweizer Weg in dieser Seuche als richtig, zu restriktiv oder zu lax (eher unwahrscheinlich) erweisen wird, kann noch niemand wissen. Unbeantwortet ist auch die Frage, ob der wirtschaftliche Schaden, der durch die Krisenbewältigung entstanden ist und der uns selbst im günstigsten Fall noch Chancen kosten wird, in einer vertretbaren Proportion zur gesundheitlichen Bedrohung stand und steht.

Das war und ist, man muss es sagen, das Heimtückische an dieser Pandemie: Dass man zunächst nicht wirklich abschätzen konnte, wie gefährlich sie wirklich ist. Und dass man auch jetzt erst in Ansätzen ermessen kann, was die Konsequenzen wären, würde die Antwort auf das Virus schwächer ausfallen.

Die Schwachen zu schützen, ist eine rationale Strategie

Auch die Aussichten sind unklar. Wird es in nützlicher Frist eine Impfung geben? Und werden die Menschen in ausreichender Anzahl ihre hegelianische Freiheit nutzen, um von diesem Impfstoff auch Gebrauch zu machen? Wird uns rasch eine Rückkehr in geregelte politische und wirtschaftliche Bahnen gelingen? Wird uns die Krise als Gesellschaft und als Wirtschaft gar modernisieren, nach vorne bringen? Oder wird man dereinst wehmütig an die vergangene Welt vor dem März 2020 zurückdenken?

Wir wissen es nicht. Was wir aber gesehen haben: Die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz steht zur Freiheit, indem sie sie – ganz nach Hegel – mit Vernunft erst ermöglicht. Dazu gehört auch Solidarität, denn die Schwachen zu schützen ist nicht nur ein edles Motiv menschlichen Handelns. Sie ist vor allem eine rationale Strategie, um Stabilität auf lange Frist zu sichern – falls sie aus Freiheit entsteht. Ein Staat, der seine Bürger hingegen zu Solidarität zwingt, wird zwangsläufig zum Gefängnis.

Freiheit und Solidarität sind die schärfsten Waffen dieses Landes. Auch gegen Covid-19. Die Schweiz, deren Geburtstag wir begehen, hat wie kaum ein anderes Land eine Geschichte der Freiheit und der Solidarität. Dafür kann man nicht genügend dankbar sein. Und sich verpflichtet fühlen, diese Werte stets aufs Neue zu verteidigen.

Um es mit Schiller zu sagen: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.»