Analyse
Gericht lehnt Auslieferung von Julian Assange an die USA ab: Gefahr für die Medienfreiheit droht noch immer

Der Wikileaks-Gründer soll nicht wegen «Spionage» an die USA ausgeliefert werden, entscheidet ein Gericht in London. Das ist ein erfreuliches Urteil. Doch die medienfeindliche Anklage ist noch nicht vom Tisch.

Leo Eiholzer
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CH Media

Die britische Richterin Vanessa Baraitser schockte heute selbst die vehementesten Unterstützer Julian Assanges, als sie die Auslieferung des Wikileaks-Gründers an die USA ablehnte. Sie anerkannte in langen Ausführungen zunächst die Argumente der amerikanischen Ankläger, dass Assanges Verhalten strafbar gewesen und nicht von der Pressefreiheit gedeckt sei. Dann schwenkte sie plötzlich um und lehnte die Auslieferung ab, da US-Haft Assange psychische Gesundheit schädigen würden und Sicherheitsvorkehrungen seinen Suizid nicht verhindern könnten.

Es ist ein Sieg auf der ganzen Linie für Julian Assange. Die Richterin ordnete seine Entlassung aus dem Hochsicherheitsgefängnis an, in dem er seit fast zwei Jahren inhaftiert ist. Dennoch ist es nur ein temporärer Erfolg. US-Vertreter haben noch im Gerichtssaal angekündigt, das Urteil anfechten zu wollen. Entsprechend wird Assange vorerst inhaftiert bleiben.

Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet Assanges langsames Versinken in den Wahnsinn seine Auslieferung verhindert hat. Die psychischen Probleme sind laut Ärzten ein Resultat der Einzelhaft und der jahrelangen Isolation in der ecuadorianischen Botschaft, wo sich Assange aus Furcht vor einer Auslieferung an die USA versteckte.

Vom Investigativ-Journalisten zum Kriminellen

Gut möglich ist, dass eine höhere Instanz Assanges Auslieferung an die USA bewilligt. Denn die Anklage gegen ihn wegen «Spionage» bleibt bestehen.

Diese Anklage zielt direkt ins Herz der Pressefreiheit. Assange soll den Rest seines Lebens ins Gefängnis, weil er wahre Informationen publiziert hat, die von öffentlichem Interesse sind. Er enthüllte unter anderem mutmassliche Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte und legte zum Beispiel offen, dass es – anders als behauptet – sehr wohl offizielle Zählungen zu zivilen Opfern im Irakkrieg gibt und dass die USA die höchsten Repräsentanten der Vereinten Nationen ausspionierten.

Die Anklage dichtet das Stellenprofil eines klassischen Investigativ-Journalisten zu einer kriminellen Verschwörung um. «Assange traf Massnahmen, um die Quelle der Enthüllungen zu verbergen», und «Assange ermunterte seine Quelle, Informationen über Behörden der USA zu teilen», stand in einer ersten Version der Anklageschrift. Etwas, das Journalisten auf der ganzen Welt täglich tun.

USA könnten Journalisten auf der ganzen Welt verfolgen

Der Dammbruch birgt das ernste Risiko, dass weitere Journalisten (auch klassischer Medien) Assange ins Gefängnis folgen werden, sollte er doch noch ausgeliefert werden. Diese Vorstellung wird noch problematischer, wenn man sich vor Augen führt, dass der Australier Assange ein Ausländer ist, der sich bei seinen Enthüllungen auf fremden Hoheitsgebiet befand. Die US-Regierung nimmt sich nun also das Recht heraus, jeden Journalisten irgendwo auf der Welt festnehmen zu lassen. Die britische Richterin hat diese Büchse der Pandora zum Glück wieder geschlossen – vorerst.

Jedem, der daran glaubt, dass kritischer Journalismus eine Regierung besser macht, indem er Missstände aufdeckt, und jedem, der freie Medien will, sollte die Anklage gegen Assange Angst machen. Egal ob man ihn mag oder nicht.

Ultimativ berührt Assange Tätigkeit eine banale Wahrheit:

Regieren mit Zustimmung des Volkes bedeutet nichts, wenn das Volk keine Ahnung hat, was die Regierung überhaupt macht.

Demokratische Regierungen entledigen sich zunehmend unangenehmen Widerspruchs, indem sie Unpopuläres hinter einer Mauer der Geheimhaltung verstecken. Assange hat diese Mauer durchbrochen wie kein anderer vor ihm.

Wie die USA Krieg gegen Whistleblower führte – und gewann

Trotz der vielen Ungerechtigkeiten ist die Anklage gegen Assange folgerichtig. Sie ist die finale Schlacht im Krieg der US-Regierung gegen Whistleblower. Begonnen hatte diesen Barack Obama, der im Wahlkampf die «transparenteste Regierung der Geschichte» versprochen hatte und dann mehr Whistleblower wegen Spionage ins Gefängnis steckte als alle 43 Präsidenten vor ihm.

Anfang der 2010er-Jahre sah es noch so aus, als könnten Wikileaks und der NSA-Whistleblower Edward Snowden eine ganze Reihe an Menschen inspirieren, die dreckigen Geheimnisse dieser Welt auszupacken. Mit Snowden im Moskauer Zwangsexil und Assanges langjähriger Haft hat die US-Regierung diese drohende Glaubwürdigkeitskrise ohnehin bereits erfolgreich abgewendet. Sie hat den Krieg gewonnen, auch wenn sie den Kampf um Assanges Auslieferung zunächst verliert.