Es war ein historischer Wahlsieg für den erst 35 Jahre alten Gabriel Boric: Chile bekommt den jüngsten Staatspräsidenten seiner Geschichte. Der ehemalige Studentenführer hat damit den Alt-Linken in Europa und Lateinamerika eine Lektion erteilt. Denn das neue Staatsoberhaupt hat etwas getan, wozu deutschen, europäischen und lateinamerikanischen Linkspolitikern immer noch der Mut fehlt: Boric hat die schweren Menschenrechtsverletzungen in den drei Linksdiktaturen Kuba, Venezuela und Nicaragua klar und deutlich verurteilt.
In diesen Ländern verschwinden Vertreter der Opposition in Gefängnissen, werden Regierungsgegner ermordet oder außer Landes getrieben, es werden Wahlen manipuliert, es wird die Umwelt zerstört. Boric nannte das laut und vernehmbar beim Namen, während in Deutschland oder in Lateinamerika alten weißen Linken wie Gregor Gysi oder Brasiliens Alt- und wohl bald wieder Präsident Lula da Silva der Anstand fehlt für eine solche Positionierung.
Borics klare Kante gegen gewaltbereiten Linksextremismus an der Staatsspitze war ein Schlüssel zum klaren Wahlsieg über den rechtskonservativen Herausforderer Jose Antonio Kast. Denn damit wurde Boric auch für jene wählbar, die Angst hatten, Chile könne zu einem sozialistisch-repressiven Modell à la Kuba oder Venezuela mutieren. Kast wiederum sorgte mit seiner frühen und ehrlichen Gratulation für einen starken demokratischen Moment.
Nun muss sich erweisen, ob Boric auch im Amt seine Kritik am eigenen ideologischen Lager fortsetzt. Außenministerin Annalena Baerbock und ihre Kollegen im Westen sollten genau hinschauen. Denn Boric bietet eine einmalige Chance, in der verfahrenen Situation in Lateinamerika ein Zeichen zu setzen.
Boric könnte zu einem Partner des Westens werden, wenn es darum geht, das Recht auf freie, transparente Wahlen in der Region durchzusetzen. Der neue Präsident hat bewiesen, dass man Wahlen auch als ein Linker gewinnen kann, der linke Repression kritisiert. Im Gegenzug könnte der Westen Boric bei seinem Projekt einer sozial gerechten ökologischen Transformation Chiles begleiten.
Auch westliche Unternehmen dürften ein Interesse an seinem Erfolg haben. Denn wenn es gelingt, in Zeiten der Klimadebatte eine Politik umzusetzen, die die Rechte der indigenen Völker und der Natur gleichermaßen berücksichtigt, dann wären die von westlichen NGOs kritisierten Freihandelsverträge zwischen Europa und Lateinamerika wieder vermittel- und durchsetzbar.