Kommentar

Biden zeigt Putin die Macht der USA auf – ohne dabei einen Schuss abzugeben

Präsident Biden sichert der Ukraine die Unterstützung Amerikas mit einer eindrücklichen Geste in Kiew zu. Russland muss das zu denken geben. Doch es braucht noch mehr Anstrengungen Europas und der USA, damit die Versprechen auch eingelöst werden.

Peter Rásonyi 443 Kommentare 4 min
Drucken
Joe Biden sichert Wolodimir Selenski in Kiew die volle Unterstützung für die ukrainische Souveränität zu.

Joe Biden sichert Wolodimir Selenski in Kiew die volle Unterstützung für die ukrainische Souveränität zu.

AP

Was für ein Tag für die Ukraine. Präsident Biden spaziert mit Präsident Selenski über den zentralen Michaelsplatz in Kiew, während in den Strassen der Stadt die Sirenen der Luftüberwachung heulen. Der Präsident des mächtigsten Landes der Welt ist nach Kiew gereist, um klarzustellen, «dass es keinerlei Zweifel über die amerikanische Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland» geben könne, wie er erklärte. Die Ukraine geniesse die unverrückbare Unterstützung der USA für ihre Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität.

Eindrücklicher könnte das Signal kaum sein, das Biden nach Moskau sendet: Egal, wie viele Soldaten und wie viele Artilleriegeschütze ihr in die Ukraine entsendet. Ich traue mich, in das Land zu reisen, wann immer es mir passt. Die Ukraine gehört nicht zum russischen Einzugsgebiet, wie ihr immer behauptet. Sie gehört zur Interessensphäre des Westens, weil ihre Bevölkerung das so wünscht und weil wir sie willkommen heissen.

Biden hat keine Angst vor Putin

Was für ein Unterschied zu Bidens geopolitischem Gegenspieler Wladimir Putin im Kreml, der öffentliche Auftritte nur im Rahmen steif inszenierter Bühnenstücke abhält. Zu Auslandreisen getraut er sich noch in den russischen Vasallenstaat Weissrussland, und selbst dort wirkt er nervös und verkrampft. Putin ist ein von den Ereignissen getriebener Finsterling hinter dicken Kremlmauern, Biden flaniert selbstbewusst unter dem blauen Himmel Kiews.

Er strahlte in Kiew Gelassenheit und Selbstbewusstsein aus, während an der weniger als 700 Kilometer entfernten Front blutige Schlachten geschlagen werden und theoretisch jederzeit ein russischer Marschflugkörper in Kiew einschlagen könnte. Biden zeigt damit der Welt, dass ein amerikanischer Präsident vor nichts Angst haben muss, auch nicht vor einem brutalen Kriegstreiber wie Putin.

Zwar haben die amerikanischen Sicherheitskräfte eine Risikoabschätzung gemacht und sind zum Schluss gekommen, dass Moskau sich keinen Anschlag auf Bidens Leben getrauen würde. Zudem gab es im Vorfeld des bis zuletzt geheim gehaltenen Besuchs auch eine Absprache mit Moskau. Dennoch braucht es etwas Mut für so eine Reise ins kriegsversehrte Land, zumal sie auch den Verzicht auf den üblichen Komfort und die Sicherheitsvorkehrungen im Jumbo-Jet des Präsidenten mit sich führte.

Demonstration von Unternehmungslust

So eine Reise ist nichts für «Sleepy Joe», das Zerrbild, mit dem Bidens Widersacher Donald Trump den vier Jahre älteren Herausforderer im vergangenen Wahlkampf charakterisiert hatte. Sie ist damit auch eine bewusste Demonstration von Vitalität und Unternehmungslust des achtzigjährigen Präsidenten, die primär an die Wähler in den USA gerichtet ist. In Washington wird die baldige Ankündigung der Kandidatur Bidens für eine zweite Amtszeit erwartet.

Biden rückt damit auch einen der grössten Erfolge seiner bisherigen Amtszeit ins Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit: Auf die gewaltige geopolitische Herausforderung des Angriffs Russlands auf die Ukraine vor einem Jahr hat seine Administration besonnen, zielstrebig und machtvoll reagiert. Ohne Bidens entschlossene Führung im Verteidigungsdispositiv des Westens wäre Kiew heute wohl bereits in russischer Hand und eine solche Reise des amerikanischen Präsidenten nicht mehr möglich.

Doch den Krieg entscheiden nicht Worte, sondern Taten. Oder bezogen auf die westlichen Alliierten der Ukraine: Unterstützung in Form von Kriegsmaterial, Munition, Geheimdienstinformationen, Logistik und Hilfeleistungen an die Zivilbevölkerung und den Staatshaushalt der Ukraine. Biden kam mit der Zusage von Kriegsmaterial für weitere 500 Millionen Dollar im Reisegepäck nach Kiew. Das ist willkommen, aber nicht viel in Relation zu den bisher bereits gelieferten militärischen Gütern von 30 Milliarden Dollar.

Der Westen muss jetzt mehr in die Rüstung investieren

Gerade die laufende Grossoffensive Russlands mit ihrer unermesslichen Materialschlacht im Osten zeigt, dass die Ukraine in den nächsten Monaten noch viel mehr militärische Unterstützung aus dem Westen brauchen wird, um die Invasoren abzuwehren. Trotz allen Solidaritätsbekundungen nicht nur der USA, sondern auch Europas ist ungewiss, ob die Ukraine künftig diese erhalten wird. Zwar hat sich die westliche Allianz im Januar endlich zur Lieferung moderner Kampfpanzer durchgerungen, aber die bisher gesicherte Stückzahl ist viel zu gering, um eine Entscheidung an der Front herbeizuführen. Dasselbe gilt für Raketenwerfer, Geschütze, gepanzerte Fahrzeuge und Munition.

Es ist höchste Zeit, dass der Westen die vor einem Jahr ausgerufene Zeitenwende auch wirklich als solche begreift: Die Epoche der Friedensdividende ist endgültig vorbei. Jetzt müssen die Weichen gestellt werden, damit die Nato-Staaten ihre durch Lieferungen an die Ukraine geschwächten Waffenarsenale und Munitionskammern wiederherstellen und sie der neuen geostrategischen Herausforderung von Putins kriegerischem Russland anpassen können. Dafür braucht es politische Entscheidungen für dauerhaft höhere Verteidigungshaushalte, und es braucht jetzt langfristige Aufträge und Garantien für die Rüstungsindustrie.

In vielen Staaten Europas ist diese Konsequenz noch nicht in der Politik angekommen. In den USA wurden einige Weichen richtig gestellt, aber nach dem Machtwechsel im Repräsentantenhaus dürfte die Unterstützung der Ukraine in die Mühlen der Parteipolitik geraten. Es wird auf allen Seiten enormer zusätzlicher Anstrengungen bedürfen, um Bidens Versprechen an die Ukraine auch wirklich umzusetzen.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine – sind auch wir im Krieg mit Russland?

NZZ Video
443 Kommentare
J. S.

Hut ab vor Präsident Biden. Ich zolle ihm und den wehrhaften Ukrainerinnen und Ukrainern meinen tiefen Respekt. Ihr Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit wird Erfolg haben. Das war ein sehr starkes Zeichen heute.

J. L.

Es ist effektiv höchste Zeit, dass der Westen, und damit auch die Schweiz, die Zeitenwende als solche auch wirklich begreift. Denn in Bundesbern ist die Zeitenwende noch nicht angekommen. Es herrscht, wie leider so oft, eine Realitätsverweigerung vor, die mehr als erstaunt! Baltasar Glättli träumt mit seinen Grünen noch immer von einer Welt ohne Waffen, obschon jeden Tag hunderte von Ukrainern massakriert werden, die Finanzministerin will sparen und den Armeeausbau nicht vorantreiben, obschon die Schweiz nicht in der Lage ist, russische Raketen abzuwehren und die SVP will sich weiter einigeln und die veraltete Neutralität verstärken, obschon die Neutralität nun dazu führt, dass die Rüstungsindustrie ins Ausland abwandert und die bewaffnete Neutralität dadurch hinfällig wird. Wie wäre es mal, wenn jemand Verantwortung übernehmen würde, statt weiterhin zu träumen?