Was steckt hinter dem Rücktritt der Harvard-Präsidentin?

Die Präsidentin der renommierten US-Elite-Universität Harvard, Claudine Gay, ist nach heftiger Kritik zurückgetreten. Ihr wurde vorgeworfen, sich nicht ausreichend von antisemitischen Haltungen distanziert und in Publikationen plagiiert zu haben. Sie hatte in einer Kongressanhörung auf die Frage, ob ein Aufruf zum Völkermord an Juden gegen Uniregeln verstoße, geantwortet, es komme auf den Kontext an.

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Le Figaro (FR) /

Gerechte Entscheidung

Kolumnist Eliott Mamane unterstreicht in Le Figaro die ausschlaggebende Bedeutung der Plagiatsvorwürfe:

„Am wichtigsten ist es vor allem zu bemerken, dass Claudine Gay trotz ihrer eindeutigen Unterstützung für zahlreiche antisemitische Aktivisten im akademischen Umfeld (unter pro-Hamas eingestellten Dozenten wie Studierenden) nicht wegen ihrer Unfähigkeit, Aufrufe zum Völkermord an den Juden zu verurteilen, sondern wegen Plagiatsverdachts aus dem Amt gedrängt wurde. Erst neue Vorwürfe, die die Gesamtzahl der Anschuldigungen in diesem Bereich auf fast 50 erhöhten, führten zu ihrem Rücktritt. … Es wäre ungerecht gegenüber den Studierenden, die sich umfangreichen Kontrollen gegen Plagiate unterziehen müssen, wenn man in Bezug auf ihre Präsidentin lax bliebe.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Eine Antisemitin ist sie nicht

Die Süddeutsche Zeitung nimmt Gay gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz:

„Die propalästinensischen Demonstrationen in Harvard waren zum Teil israelfeindlich, antisemitisch, geschichtsvergessen und aggressiv. Gay hat betont, dass Antisemitismus keinen Platz in Harvard habe. Wieder und wieder, energisch und glaubwürdig. Aber wurde bei den Demonstrationen wirklich zum Völkermord aufgerufen? Gay wollte in einem Feld differenzieren, das nur zwei Seiten kennt. Den Vorwurf der unsauber arbeitenden Akademikerin muss sie sich für immer gefallen lassen. Den der Antisemitin nicht.“

The Guardian (GB) /

Kreuzzug gegen Bildung

Die Empörung über Gay hat nichts mit Plagiatsvorwürfen zu tun, so The Guardian:

„Es hat auch nichts mit Claudine Gay an sich zu tun. Ihr Rücktritt ist lediglich die jüngste Episode im Kampf der Rechten gegen Bildung – ein Projekt, das seit Jahrzehnten immer heftiger und zunehmend von Erfolg gekrönt ist. Republikaner hassen Bildung und sie haben das nicht nur in ihrer Politik gezeigt, sondern auch im öffentlichen Theater kultureller Beschwerden. ... Sowohl die Medien als auch das amerikanische Universitätssystem hatten die Gelegenheit, die Angriffe auf Gay in diesem größeren Kontext des Kreuzzugs der Republikaner gegen Bildung zu verstehen.“

De Volkskrant (NL) /

Antiwoke riecht Blut

Konservative auch außerhalb der USA werden sich die Causa zum Vorbild nehmen, prophezeit De Volkskrant:

„Der Kampf um die 'linke Indoktrinierung' von Universitäten wird auch in den Niederlanden geführt und heftiger werden durch diese gewonnene Schlacht. Antiwoke riecht jetzt Blut. Reaktionäre Meinungsmacher haben gesehen, wie erfolgreich es sein kann, die Waffen von Woke gegen Woke selbst einzusetzen. Empörung und Gekränktheit lohnen sich. Nachdem Krieger für soziale Gerechtigkeit mit einer immer stärker ausgeweiteten Definition von Diskriminierung hantierten - wobei Kritik an schwarzen oder transgeschlechtlichen Menschen schnell gleichgesetzt wurde mit Hass oder noch Schlimmerem - sieht man nun dieselbe Dynamik bei einem Teil der Rechten.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Zurück zu alten Werten

Svenska Dagbladet hält den Rücktritt für angemessen:

„Natürlich kann Gay nicht die gesamte Verantwortung für die Entwicklung Harvards zugeschrieben werden. Die Heuchelei rund um die Grenzen der freien Meinungsäußerung ist das Ergebnis einseitiger Radikalität, die zur institutionellen Campus-Religion erhoben wird. Gleichzeitig eröffnet der Sturm der Kritik der letzten Monate hoffentlich den Anstoß für eine gewisse Selbstprüfung an den amerikanischen Universitäten. Ein bescheidener Rat wäre, etwas Neues auszuprobieren – oder lieber etwas Altes und Bewährtes.“