Neue Flüchtlingsdramen vor Sizilien

Bei drei Bootsunglücken vor Sizilien sind vergangene Woche vermutlich mehr als 700 Flüchtlinge gestorben. Dies berichteten am Sonntag UNHCR und Save the Children. Mehr als 13.000 Menschen wurden laut italienischer Küstenwache innerhalb von sechs Tagen gerettet. Wann wird die Politik endlich reagieren?

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Politis (CY) /

Menschheit wird sich niemals bessern

Der deutsche Verein für Seenotrettung Sea Watch hat Anfang der Woche das Bild eines im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingsbabys veröffentlicht und die EU zum Handeln aufgefordert. Resigniert kommentiert Politis das Foto:

„Wir werden uns an dieses Bild wohl gewöhnen müssen, falls das noch nicht geschehen ist. Hunderte von Menschen sind in den letzten Tagen im Mittelmeer ertrunken - jetzt sind sie nur noch eine Zahl. Die vorherigen waren auch nur eine Zahl. Dieses Foto zeigt nicht nur ein Baby und einen Rettungsschwimmer. Der Säugling ist die Menschheit. Er symbolisiert die Unreife der menschlichen Rasse über die Jahrhunderte hinweg. Diese Unreife manifestiert sich mal in Weltkriegen, mal in Κreuzzügen oder Versklavungen und manchmal in massiven Bevölkerungsbewegungen. Das Foto ist die bildliche Darstellung des universellen Babel. ... So setzt sich die Geschichte fort und wahrscheinlich wird sich diese Welt nie ändern.“

La Repubblica (IT) /

Italien muss sich alleine zu helfen wissen

Laut UNHCR sind 2016 bislang fast 50.000 Flüchtlinge in Italien angekommen - etwa genauso viele wie im Vorjahreszeitraum. Europa wird Rom in der Flüchtlingsfrage allein lassen, warnt Lucio Caracciolo in La Repubblica:

„Sollten auf den erhöhten Druck der Flüchtlingswelle verschärfte Kontrollen an den Grenzen von Österreich und Frankreich folgen, oder gar eine vorübergehende Schließung, wäre Italien in einem tödlichen Würgegriff. … Da wird uns Europa nicht retten. Italien muss Vorkehrungen treffen und die Migrationskrise - die kein kurzfristiger Notstand ist, sondern die Normalität der nächsten Jahrzehnte sein wird - mit eigenen Mitteln meistern. Das bedeutet, in Infrastrukturmaßnahmen zur Aufnahme und Integration zu investieren, will man nicht hinnehmen, dass das schöne Land zum Archipel von Ghettos und Lagern verkommt. Deutschland hat gerade Flüchtlingsmaßnahmen in Höhe von Dutzenden Milliarden Euro verabschiedet. ... Auch Italien braucht dringend ein Integrationsgesetz.“

NRC (NL) /

Legale Fluchtwege schaffen, Menschen retten

An die europäische Solidarität appelliert dagegen weiterhin NRC Handelsblad:

„Der Kern einer europäischen Flüchtlingspolitik muss sein, dass Europa entscheidet, wer kommen darf - und nicht die Schmuggler und ihre Handlanger. Vergesst die Zäune, auf dem Meer funktionieren die nicht. ... Europa muss legale Routen öffnen im Tausch für die lokale Mitwirkung beim Schließen der illegalen. Hart oder nicht - der Türkei-Deal ist dafür noch immer das beste Modell. ... Das heißt auch: Afrika unterstützen, um Menschen Perspektiven zu geben. Und die Möglichkeit, vor Ort Asyl zu beantragen. Das reiche Europa mit seiner wirtschaftlichen und diplomatischen Soft Power hat dabei große Möglichkeiten. Zumindest, wenn die europäischen Länder gemeinsam handeln. ... Die Katastrophen-Woche weist jedoch erneut auf einen katastrophalen Mangel an Solidarität hin. ... Hoffentlich bringen die Schreckensbilder die europäischen Länder dazu, nicht länger wegzuschauen.“

La Stampa (IT) /

Italiens Regierung gesteht Notstand nicht ein

Die Regierung in Rom will die Dramatik der Situation nicht wahrhaben, warnt die Tageszeitung La Stampa:

„Sollte der Ansturm, allein 15.000 innerhalb einer Woche, den Sommer über anhalten, würde der Notstand ausbrechen. Im Palazzo Chigi hofft man inständig, es möge nicht geschehen. Über zwei besorgniserregende Entwicklungen schweigt man sich vorerst - verständlicherweise - aus. ... Die erste betrifft die Aufnahmelager: Sie sind längst hoffnungslos überfüllt. ... Die zweite Sache ist bislang nur ein Verdacht: Ein Teil der Flüchtlingsboote könnte von Kräften gesteuert sein, die der libyschen Regierung von Fayiz as-Sarradsch feindlich gesinnt sind. ... Kräfte, die Interesse haben, mit allen erdenklichen Mitteln die neue Regierung der nationalen Einheit, die ohnehin nur schwer Fuß fasst, zu destabilisieren. Und eine weitere beunruhigende Frage drängt sich in diesen Stunden auf: Bisher kommen über Libyen keine Syrienflüchtlinge. Was aber geschieht, wenn auch der Flüchtlingsstrom aus Syrien wieder anschwillt?“

Sabah (TR) /

Flüchtlinge sterben wegen kurzsichtiger Politik

Das Sterben auf dem Mittelmeer ist für die regierungstreue türkische Zeitung Sabah das Resultat der verantwortungslosen westlichen Politik:

„Frankreich ließ erst Gaddafi im Garten des Élysée-Palasts sein Zelt aufschlagen und bombardierte später Libyen. Doch trauert Frankreich auch um die 700 Libyer, die in den vergangenen drei Tagen versuchten, nach Europa zu gelangen, um ihr Leben zu retten und dabei von den wankenden Booten fielen und ertranken? Warum denken diese kleingeistigen Marionetten eigentlich nie daran, aus den Ereignissen im Irak, in Syrien, in Ägypten und Libyen zu lernen? ... Das arme Volk wird ermordet, ist gezwungen, seine Häuser und seine Heimat zu verlassen und anstatt dass die Öl-Gewinne für den Wohlstand des Volkes ausgegeben werden, werden damit Diktatoren und Waffenhändler finanziert.“

Svenska Dagbladet (SE) /

Die jetzigen Asylregeln funktionieren nicht

Die EU muss jetzt und heute damit beginnen, ein neues Asylsystem zu entwickeln, fordert Svenska Dagbladet:

„Das Asylsystem, das wir jetzt haben, bringt verzweifelte Menschen dazu, ihr Leben auf dem Mittelmeer aufs Spiel zu setzen. Das dient der kriminellen Milliardenindustrie der gewissenlosen Menschenschmuggler. ... Es muss einen besseren Weg geben. Zum Beispiel eine ernsthafte Diskussion innerhalb der EU, wie ein anderes, besseres funktionierendes und nachhaltiges Asylsystem aussehen könnte. Der Migrations- und Flüchtlingsdruck ist kein vorübergehendes Problem. Es ist höchste Zeit, eine Debatte über Alternativen zum gegenwärtigen System zu beginnen. Nicht zuletzt, weil es viele Jahre dauern wird, bis die EU eine Neuordnung etablieren kann – sofern dies überhaupt möglich ist. Bis dahin müssen die Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer fortgesetzt werden. … Es muss mehr legale Wege für Flüchtlinge geben und eine solidarische Verteilung innerhalb der EU.“