30 Jahre Mauerfall - was gibt es zu feiern?
Am vergangenen Wochenende haben die Menschen in Berlin, Deutschland und Europa den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren gefeiert. Kommentatoren in Ost- und Westeuropa werfen einen Blick darauf, was aus dem Geist von 1989 geworden ist.
Träume von 1989 sind zerplatzt
Der Sieg der liberalen Demokratie scheint eine Illusion gewesen zu sein, meint Népszava:
„Der Mauerfall hat die ganze Zukunft des Kontinents bestimmt. Er hat das Gefühl der Zugehörigkeit und den Glauben an die Demokratie gestärkt, er hat die Grundlage unseres gemeinsamen Europas gelegt. Wir dachten, dass die liberale Demokratie sich durchgesetzt hat. ... Seit Ende der 2000er Jahre aber schwappten schwere Krisen über die Welt und Europa hinweg ... Die Populisten und die Rechtsradikalen konnten zwar keinen Durchbruch in der europäischen Politik erreichen. ... Sie haben aber die Lage Europas unsicher und instabil gemacht. All diese Störungen sind sowohl Auslöser, als auch Konsequenz der Tatsache, dass der Geist, von dem Europa nach dem Mauerfall geprägt wurde, sich in Luft aufgelöst zu haben scheint.“
Ostmitteleuropa schätzt den Liberalismus
Politikwissenschaftler Alexandre Massaux macht in Contrepoints auf eine Meinungsumfrage aufmerksam, die zeigt, dass die Menschen in den mitteleuropäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks Kapitalismus und Liberalismus gegenüber positiver eingestellt sind als die westlichen Nachbarn:
„Das wichtigste Element, das Zentraleuropa optimistischer macht, ist, dass all diese Länder während der Jahrzehnte, die auf das Ende des Sowjet-Blocks gefolgt sind, erfolgreich große liberale Reformen umgesetzt haben. Heute haben sie mehr wirtschaftliche Freiheit als Frankreich. Selbst die sogenannten 'populistischen' Parteien, die in Polen, Ungarn und Tschechien an der Macht sind, haben es nicht geschafft, den Freiheitsgeist, der seit dem Mauerfall aufgelebt ist, zunichte zu machen. Die Mehrheit dort ist sich weiterhin bewusst, dass sie die freie Marktwirtschaft zur Sicherung des Wohlstandes braucht.“
Mauer im Kopf macht es Propagandisten leicht
Den gegenwärtigen Weg in Richtung Autoritarismus in Polen und Ungarn erklärt Jornal Económico damit, dass für die Menschen in diesen Ländern die Mauer im Geiste nie wirklich gefallen ist:
„Jahrzehntelang lebten die Menschen in Osteuropa unter der Herrschaft propagandistischer Regime, die von der Schaffung einer 'Realität' abhängig waren, die nur in den erfundenen Lügen ihrer Propagandisten existierte. ... In Ländern wie Polen und Ungarn glauben die Menschen an Politiker, die auf Verschwörungstheorien zurückgreifen, weil jahrzehntelange Propaganda und totalitäre Herrschaft sie konditioniert haben, allem zu misstrauen. Paradoxerweise akzeptieren sie nun selbst die lächerlichsten Lügen als plausibel und überzeugend. ... Geistig gesehen lebt ein Großteil der polnischen und ungarischen Bevölkerung immer noch auf der anderen Seite einer psychologischen 'Berliner Mauer'.“
Die Welt ist erwachsener geworden
An überhöhte und unerfüllte Hoffnungen erinnert Soziologe Mark Elchardus in De Morgen:
„30 Jahre später fallen vor allem die naiven Erwartungen von damals auf. ... Der Fall der Mauer wurde als Bestätigung für das Ende der Geschichte angesehen: die Überzeugung, dass die gesamte Welt zur Marktwirtschaft übergehen würde, zur liberalen Demokratie und der Trivialisierung der Nationalstaaten. Heute erscheint es erstaunlich, dass man das annehmen konnte. Es waren nicht unsere besten 30 Jahre. Beinahe alles wurde instabil. Es waren aber besonders lehrreiche Jahre. Die Welt ist erwachsener geworden. Und wie man es auch dreht und wendet: Die Jugendlichen von heute, die sich in der Klimabewegung engagieren, scheinen genau wie Ost-Berliner Studenten von damals für eine weniger schrille, gedämpftere Gesellschaft zu kämpfen.“
Europas Selbstbewusstsein ist dahin
Die Menschen, die im Jahr 1989 auf die Straßen gegangen sind, hätten sich ein stärkeres Europa erträumt, glaubt Latvijas Avīze:
„Bundeskanzlerin Merkel besucht jedes Jahr Peking. Emmanuel Macron, Amtskollege im Élysée-Palast, folgt ihren Spuren. Doch im Handel mit China hat man keinen Vorteil erreicht, was das Hauptziel und der einzige Zweck dieser Reisen war. Ebenso verliert die europäische Diplomatie im Umgang mit Russland. Denn Berlin und Paris setzen die Priorität darauf, mit Nord Stream 2 weiterzumachen. Ebenso hat Berlin konsequent den Beitritt der Ukraine und Georgien in die Nato gebremst, die vor Jahren das Überleben der westdeutschen Demokratie sicherte. Und wie wir wissen, hat die von Heiko Maas geleitete Behörde die Anerkennung von Holodomor [schwere Hungersnot in der Ukraine 1932/33] als Genozid nicht empfohlen.“
Die Mauer in den Köpfen ist viel niedriger
Das anhaltende West-Ost-Gefälle in Deutschland lässt sich politisch nicht ausschlachten, merkt Kommersant an:
„Russland sollte nicht schadenfroh auf die Probleme Deutschlands schauen und sie zum Beleg des 'westlichen Niedergangs' machen. Der gesellschaftliche Konsens in politischen Schlüsselfragen ist in Deutschland breiter, als es von außen scheinen mag: Die Mauer in den Köpfen ist weitaus niedriger, als es die Berliner Mauer in der Realität war - und sie ist ohne Todesgefahr zu überwinden. Die Forderungen der AfD nach einer Korrektur der Russlandsanktionen sind mehr ein Teil des Negierens von Merkels politischem Erbe als selbstloser Altruismus in Richtung Moskau.“
Hoffnung in schwierigen Zeiten
Trotz wachsendem Rechtspopulismus gibt es auch Bewegungen, die an die Werte von vor 30 Jahren anknüpfen, beobachtet Upsala Nya Tidning:
„In mehreren Ländern schließen sich Veteranen von 1989 mit jungen Menschen zusammen, die vor 30 Jahren oft noch gar nicht geboren waren, um demokratische Grundwerte zu verteidigen. Es gibt eine wachsende Studentenbewegung in der Tschechischen Republik und die demokratischen Kräfte in Polen werden trotz des Wahlsiegs der PiS-Partei in diesem Herbst nicht aufgeben. Die Präsidentschaftswahl der Slowakei im März dieses Jahres zeigt, was möglich ist. “
Für ein Europa ohne Trennlinien
Das erhoffte vereinte Europa wurde bis heute nicht geschaffen, erklärt der sowjetische Ex-Präsident Michail Gorbatschow in einem Beitrag, der gleichzeitig in Nowaja Gaseta und Time Magazine erschienen ist:
„Am wichtigsten waren die Menschen, insbesondere zwei Völker: Die Deutschen, die entschlossen und vor allem friedlich ihren Willen zur nationalen Einheit bekundeten. Und natürlich die Russen, die die Bestrebungen der Deutschen verstanden und den Willen des deutschen Volkes unterstützten. ... Wir zogen damals einen Schlussstrich unter den Kalten Krieg. Unser Ziel war ein neues Europa ohne Trennlinien. Die politischen Führer, die uns nachfolgten, haben dieses Ziel nicht erreicht. Eine moderne Sicherheitsarchitektur, ein starker Mechanismus zur Verhütung und Lösung von Konflikten wurden nicht geschaffen. Daher die schmerzhaften Probleme und Konflikte, die unseren Kontinent heute plagen.“
Unentschieden zwischen Byzanz und dem Westen
Die Demokratie ist in Ostmitteleuropa in den vergangenen 30 Jahren "östlich mutiert", beklagt Dennik N:
„Wir haben den Generationen, die nach dem Regimewechsel aufwuchsen, nicht erklären können, wofür Demokratie gut ist. Deshalb sind wir immer noch auf halbem Weg zwischen Byzanz und dem Westen. Unsere Bürger sind sowohl für Demokraten als auch für Despoten. Charakterlosigkeit, Nachlässigkeit, Hass und Korruption gehören zum Alltag. Wir haben eine Art 'Mischung' gemacht und sie die östliche Mutation der Demokratie genannt. ... Der Westen war 1989 noch ein Leuchtfeuer für uns. Wir wollten auch so werden. Leider hat sich in der Zwischenzeit auch der Westen deformiert, mit Leuten wie Trump und Johnson.“
Nostalgie-Syndrom beherrscht nicht nur Osteuropa
Gegen Verklärung der Vergangenheit ist man selbst im wirtschaftlich starken Deutschland nicht gefeit, stellt Večernji list fest:
„Das Regime der DDR war zweifellos repressiv, aber nicht ganz ohne Reiz. Die Westdeutschen können nicht verstehen, dass im Osten nicht alles nur schwarz und grau war. ... Die Löhne waren niedrig, man fuhr statt Mercedes und Opel Trabant und Wartburg, aber das Leben hatte seine hellen Seiten. Niemand musste sich um seinen Job sorgen oder darum, ob er seinen Lohn bekommt, da die Möglichkeit, dass eine Firma bankrott geht, gleich Null war. ... Das zeigt, dass Deutschland, das meistentwickelte Land Europas, das Syndrom der ehemaligen kommunistischen oder sozialistischen Länder teilt, das Nostalgie-Syndrom. “
Der Kreml arbeitet an einer neuen Mauer
Laut Wedomosti ist es heute Russland, das von seiner eigenen Regierung eingezäunt wird - diesmal virtuell:
„Die antiwestliche Propaganda der staatstreuen Medien schafft Feindbilder und die Vorstellung einer belagerten Festung, während man nach inneren Feinden sucht und die Unzufriedenheit über die Lage im Land mit äußerer Einmischung erklärt. Man versucht die Bürger zwar nicht physisch, aber informationell einzusperren, indem man eine Isolierung des russischen Internets vorbereitet. ... Zugleich drängt der Kreml darauf, die bipolare Welt wieder herzustellen und sich mit der Unterstützung der Traditionalisten, die mit der Globalisierung und der Rolle der USA in der Weltpolitik nicht einverstanden sind, den Status eines alternativen Einflusszentrums zu verschaffen.“
Lichtblicke im Osten
Die populistischen Kräfte, deren Erfolgsrezept auch der Widerstand gegen eine Nachahmung des Westens war, geraten nun selbst in die Krise, beobachtet Le Point:
„Die beachtliche wirtschaftliche Entwicklung trägt vor allem in den großen urbanen Zentren dazu bei, dass die demokratischen Ideale fortbestehen. … Dieses Jahr haben mehrere Lichtblicke die Lebendigkeit der Bürgergesellschaft veranschaulicht. In der Slowakei wurde eine Liberale zur Präsidentin gewählt. In Tschechien haben Monsterdemonstrationen die Korruption der Regierenden angeprangert. In Polen hat die Mobilisierung der Frauen weitere Verschärfungen des Abtreibungsrechts verhindert. Die Europawahl im Mai hat gezeigt, dass die Populisten überall im Sinkflug sind. 30 Jahre nach der Revolution von 1989 befindet sich nun die Gegenrevolution in der Defensive.“
Kommunismus hat Nationalismus genährt
Dagens Nyheter beschäftigt sich mit der starken Stellung nationalistischer Parteien in Ländern wie Polen, Ungarn oder auch den ostdeutschen Bundesländern und glaubt, dass diese auch dem Kommunismus geschuldet ist:
„Kommunisten behaupten gerne, dass sie Internationalisten sind. ... Aber in der Praxis zeichnet sich der Kommunismus, am stärksten in seiner stalinistischen und maoistischen Form, durch eine starke Orientierung an nationalistischen Vorstellungen und eine ganz praktische nationalistische Politik aus. In der DDR konnten Rituale und Institutionen, die in Westdeutschland durch den Nationalsozialismus kompromittiert waren, im Schutz der roten Fahnen und dem proklamierten 'Antifaschismus' weiterleben: Paraden, Führerkult, eine Jugendorganisation in Uniform und eine überall präsente politische Polizei.“
Eine vertane Chance
Die deutsche Wiedervereinigung hat die europäische Zusammenarbeit alles andere als vorangebracht, klagt Journalist François Schaller auf seinem Blog bei Le Temps:
„Die Europäische Gemeinschaft hat ihre letzte Chance vertan, sich hin zu einem egalitären Föderalismus zu entwickeln, den sie ganz offensichtlich benötigte. Stattdessen ist Europa allmählich zum Gespött der Welt geworden: ein 'Zusammenschluss von Staaten sui generis', wie es offiziell heißt. Weder Föderation noch Konföderation, noch einfache Freihandelszone, nichts von alldem, sondern etwas viel Kreativeres ganz nach Art der europäischen Genialität: ein erweitertes, auf den Euro ausgerichtetes und unausgewogenes deutsch-französisches Europa, das von den Präsidenten Frankreichs und den Bundeskanzlern per Telefon, deutsch-französischen Gipfeltreffen und EU-Ratstreffen mit vorgegaukelter Einigkeit regiert wird.“
Worüber zum Jahrestag nicht diskutiert wird
Spiegel Online erinnert daran, dass die deutsche Wiedervereinigung auch hätte anders gestaltet werden können:
„42 Prozent der damaligen DDR-Bürger wünschten sich damals eine eigene Verfassung, 38 Prozent eine neue, gesamtdeutsche Verfassung, und gerade einmal neun Prozent wollten das Grundgesetz übernehmen. Es wurde erbittert gestritten, ob die Wiedervereinigung über Artikel 23 des Grundgesetzes (Beitritt ohne neue Verfassung) vollzogen werden sollte - oder nach Artikel 146 (Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung). … Aber kurz darauf hat Bonn die Regie übernommen und durchgesetzt, was es für richtig hielt. Vielleicht war es das sogar: richtig, ohne Alternative. Doch eine Diskussion darüber findet zu den Jahrestagen der Einheit kaum statt, weder in der Politik, noch in den Medien.“
Antidemokratische Reflexe bestehen fort
Noch immer sind die Menschen in Mittelosteuropa nicht in der Demokratie angekommen, urteilt der Politologe Jiří Pehe in Denik N:
„Während die meisten Menschen nicht in die Zeit vor 1989 zurückkehren möchten, deuten Wahlen und Umfragen darauf hin, dass die Identifikation mit den Werten der liberalen Demokratie im postkommunistischen Teil besonders gering ist. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der tschechischen Demokratie werden hauptsächlich von Menschen verursacht, die im früheren Regime die stille Mehrheit bildeten. ... Die meisten von ihnen wurden nie wirkliche Demokraten. ... Bei den ersten großen Schwierigkeiten kehrten sie zu den Reflexen zurück, die sie im vorherigen Regime erlernt hatten, einschließlich der Bewunderung für eine starke Hand.“
Kroaten warten bis heute auf den Mauerfall
Als allenfalls halb vollendet beschreibt Večernji list die Transformation in Kroatien:
„30 Jahre später ist in Kroatien eine komische Mischung am Werke, aus liberaler Demokratie, freier Marktwirtschaft, Sozialismus, Selbstverwaltung, staatlichem Interventionismus und starren, autoritären Parteistrukturen. Oft hört man: Wann fällt in Kroatien endlich die Berliner Mauer? ... Ja, wir sind aus dem Sozialismus raus. Aber nur mit einem Bein, dem rechten. Das linke Bein ist immer noch im Sozialismus. ... Das Problem ist, dass die Menschen sich nicht für geschäftliche Abenteuer und Risiken entscheiden, sondern massenhaft im öffentlichen, staatlichen Dienst unterkommen und Ruhe bis zur Rente haben wollen. ... Kroatien ist 30 Jahre später Schlusslicht der EU. Wann kommen die Veränderungen?“
Der Anfang vom Ende des Sozialstaates
Nicht nur die Mauer fiel, auch der Sozialstaat geriet unter Druck, gibt La Vanguardia zu bedenken:
„Das Szenario nach dem Mauerfall verschärfte die Krise, in der sich der Sozialstaat der europäischen Nachkriegszeit befand. Die Zurückdrängung des Staates, wie sie die neoliberalen Theoretiker der Chicago-Schule und der Nobelpreisträger Milton Friedman Mitte der 1970er Jahre predigten, fand in diesem neuen Europa einen Nährboden. Sie gefährdete das alte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und damit die Politik der europäischen Sozialdemokratie. 30 Jahre, nachdem die Ostberliner die Mauer eingerissen haben, müssen sich Deutschland und Europa entscheiden zwischen denen, die sie zurück in eine dunkle Vergangenheit führen wollen, und denen, die trotz aller Hindernisse fortschreiten wollen, hin zu freieren Gesellschaften.“
Die Revolution ist noch längst nicht gescheitert
Zu Unrecht wird die Revolution von 1989 aufgrund der Wahl von illiberalen Politikern an die Spitze ehemaliger Ostblockstaaten als Fehlschlag betrachtet, kritisiert Le Monde:
„Wer sind wir, dass wir urteilen? Wir sind die, die das Modell geliefert haben. Das Modell, das lange Zeit funktionierte, aber nicht auf Orbán warten musste, um seine Schwachstellen aufzuzeigen. Denn das tat es bereits während der verheerenden Krise 2008. Das Modell, das es - satt und zufrieden - nicht geschafft hat, die nötige Kreativität und den Mut aufzubieten, um sich zu erneuern, und Donald Trump, Boris Johnson und Matteo Salvini hervorgebracht hat. Nein, die Revolution von 1989 ist nicht gescheitert und ist auch nicht das Ende der Geschichte. Sie könnte sogar, wenn man es richtig anpackt, ein neuer Beginn der Geschichte sein.“
Die eigentliche Revolution war im Oktober
Die Süddeutsche Zeitung findet es unverständlich, dass die Ereignisse, die dem Mauerfall vorausgingen, so wenig Aufmerksamkeit finden:
„Die Oktobertage 1989 waren entscheidend für den Sieg über ein 40 Jahre lang bestehendes Unterdrückungssystem. Die DDR-Führung gab keinen Feuerbefehl, die Angst hatte von den Demonstranten auf die Seite der Regierenden gewechselt. Nur deshalb konnten die DDR-Bürger einen Monat später die Mauer stürmen und auf ihr tanzen. Vor der Einheit kam die Freiheit. Sie war der Sieg eines ganzen, damals noch halbierten Landes. Die Berliner Mauer fiel am 9. November. Aber die Revolution war im Oktober. Gefeiert wird dies in Deutschland nicht. Man betrachtet lieber das Finale.“
Die offene Gesellschaft ist den Kampf wert
Auch wenn die Demokratien nicht perfekt sind, lohnt es sich in jedem Fall, für sie zu einzutreten, meint The Evening Standard:
„Das Europa, in dem wir leben, tut sich schwer, seinem Anspruch gerecht zu werden. Doch bei dem, was Menschen damals auf den Straßen Osteuropas und heute in Hongkong riskierten und riskieren, geht es um die Überzeugung, dass offene Gesellschaften besser sind als solche, die sich durch Feindseligkeiten definieren. Derartige Bewegungen werden auch von dem Glauben angetrieben, dass Demokratien, obwohl ihre Entwicklung schwer vorherzusagen ist, der Lähmung geschlossener Gesellschaften vorzuziehen sind. Die Risiken, die die Fußsoldaten des Wandels vor 30 Jahren eingegangen sind, waren es wert. Trotz aller Rückschläge seitdem sind sie es noch immer.“
Moderne Mauern sind noch schwerer zu überwinden
30 Jahre nach dem Mauerfall werden die Grenzen in Europa und der Welt wieder befestigt werden, bedauert Latvijas avize:
„Wegen negativer Konnotationen spricht man aber nicht von Mauern, sondern von Wänden, Zäunen und Verteidigungssystemen. Dank moderner Überwachungstechnik sind diese Zäune noch schwerer zu überwinden als die Berliner Mauer. Ungarn öffnete 1989 als erstes sozialistisches Land seine Grenze zu Österreich. Heute hat das Land eine viel schwerer zu überwindende Barriere aufgebaut - an der Grenze zu Serbien. Andere Zäune existieren in Form von Stacheldraht: Israel - Palästinensische Gebiete, Bulgarien - Türkei, Baltische Länder - Russland, Abchasien - Georgien. Und nicht zu vergessen Trumps Grenzmauer zu Mexiko. ... Die bisherige Geschichte der Menschheit hat aber bewiesen, dass mechanische Schranken nur eine vorübergehende Lösung sind.“
Wiedervereinigung bis heute nicht gelungen
Ost- und Westdeutschland sind noch immer getrennt, beobachtet La Vanguardia:
„Es gibt viele Gründe dafür, dass sich Ost und West getrennt fühlen. Die Ungleichheit ist enorm, wie eine Studie des Münchner Ifo-Instituts zeigt. Aus ihr geht hervor, dass der Lebensstandard in den ostdeutschen Bundesländern das Niveau der westdeutschen wenn überhaupt dann erst in Jahrzehnten erreichen wird. Viele Deutsche, vor allem im Osten, sind arm und leben doch in einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Das ist dramatisch und paradox. Jetzt ist auch noch das Gespenst der Rezession aufgetaucht. ... In drei Jahrzehnten hat es das Land nicht geschafft, die Ungleichheiten zu überwinden.“