Raketenexplosion in Polen: Wie geht es weiter?

Nach dem Raketeneinschlag im polnischen Przewodów im Grenzgebiet zur Ukraine wächst das Bemühen um Aufklärung und Deeskalation: Sowohl die USA, Polen als auch die Nato erklärten, dass es sich bei dem Geschoss russischer Bauart wahrscheinlich um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handele. Es gebe keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff, teilte Polens Präsident Andrzej Duda mit. Die Presse bleibt besorgt.

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Gazeta Wyborcza (PL) /

Selenskyj setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel

Dass der ukrainische Präsident zunächst an der Version festhielt, Russland habe die Rakete abgefeuert, hält Gazeta Wyborcza für problematisch:

„Selenskyj spielt ein riskantes Spiel, denn er untergräbt seine eigene Glaubwürdigkeit in den Augen seiner wichtigsten westlichen Partner. Kyjiw hoffte wahrscheinlich, dass der Westen angesichts des Krieges und der massiven Terroranschläge Russlands gegenüber den Fakten ein Auge zudrücken würde. Nur ist dies in Gesellschaften mit freien Medien und Politikern, die gegenüber den Bürgern rechenschaftspflichtig sind, nicht möglich. Denn früher oder später würde die Wahrheit ans Licht kommen.“

Kirill Schulika (RU) /

Bali verhinderte eine neue Kuba-Krise

Der Blogger Kirill Schulika rekapituliert in einem Facebook-Post, wie brenzlig die Lage war:

„Kyjiw möchte die Verantwortung für das Geschehen nicht übernehmen. ... Es ist offensichtlich, dass die Amerikaner keinen dritten Weltkrieg wollen. ... In diesem Zusammenhang erlebt Selenskyj nun einige unangenehme Momente. Seine erste Erklärung war sehr unglücklich. Danach hat er seine Aussagen zwar relativiert [und eine genaue Untersuchung gefordert], aber die Nacht nach dem Raketenabsturz war wohl die angespannteste seit der Kuba-Krise. Zum Glück waren die Führer der westlichen Welt beim G20-Treffen auf Bali und konnten schnell zusammenkommen.“

Magyar Nemzet (HU) /

Der hohe Preis der Ukraine-Unterstützung

Für die regierungsnahe Magyar Nemzet zeigt der Vorfall erneut, wie dringend die EU eine Waffenruhe fordern müsste:

„Die Raketenexplosion in Polen sollte ein Warnsignal sein für diejenigen, die mit Waffenlieferungen und Sanktionen zur Verlängerung des Krieges beitragen. Man braucht kein x-tes Sanktionspaket, das die sowieso nicht glänzenden Aussichten Europas weiter verschlechtert, sondern wenigstens eine Waffenruhe, bestenfalls Friedensverhandlungen. ... Die derzeitige Situation kann nur um den Preis der fortgesetzten Metzelei und des weiteren Leids Europas weiterhin aufrechterhalten werden.“

Večer (SI) /

Ultimaten bringen nichts

Vorfälle wie dieser werden Friedensverhandlungen nicht begünstigen, fürchtet Večer:

„Zwischen den Verhandlungen von März und jetzt gibt es einen wesentlichen Unterschied. Damals hat Kyjiw Frieden dringend gebraucht, denn Russlands Armee war in der Offensive, jetzt ist es umgekehrt. Selenskyj stellt fast täglich hohe Forderungen, die Russlands Präsident Putin nicht erfüllen möchte oder kann. Auch wenn klar ist, wer in diesem Krieg der Aggressor und wer das Opfer ist, sind Verhandlungen immer die Suche nach einem Kompromiss und nicht das Vorbringen von Ultimaten. Die Kollegen der verbündeten Staaten müssten den ukrainischen Präsidenten darauf hinweisen.“

Dagens Nyheter (SE) /

So könnte der Dritte Weltkrieg beginnen

Nun ist Wachsamkeit vonnöten, betont Dagens Nyheter:

„Genau so kann ein großer Krieg seinen Anfang nehmen - und das aktuelle Ereignis ist eine wichtige Erinnerung daran, welche Kräfte Russland und Präsident Wladimir Putin mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine losgetreten haben. Auch wenn sich die Rakete als ukrainisch erweist, liegt die Schuld beim Kreml. Ohne den russischen Angriff wäre das Abfeuern von Verteidigungsraketen nicht nötig gewesen. Der russische Imperialismus hat nicht nur dem ukrainischen Volk unermessliches Leid zugefügt. Er hat auch ein weitaus gefährlicheres Europa geschaffen und eine gefährlichere Welt, in der Beziehungen von Misstrauen geprägt sind und immer weniger Zeit bleibt, um auf einen außergewöhnlichen Vorfall zu reagieren.“

Wiener Zeitung (AT) /

Besonnenheit ist das Gebot der Stunde

Angemessenes Handeln braucht Zeit, mahnt die Wiener Zeitung:

„Die jüngsten Ereignisse haben allen Beteiligten - und der Öffentlichkeit - vor Augen geführt, wie groß die Gefahr ist, dass dieser Krieg zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Atommächten eskaliert; wie wichtig gesicherte Fakten und besonnenes Handeln auf allen Seiten sind; wie leicht bloße Gerüchte zu Forderungen und Taten führen können. Es braucht Zeit, um Fakten zu prüfen, zum Nachdenken, zum klugen und koordinierten Handeln. Die Logik der digitalen Öffentlichkeit befeuert das genaue Gegenteil. Wir können es nicht ändern, wir müssen es uns nur allzeit bewusst machen - und uns dagegen wappnen.“

Strana (UA) /

Nato will keine weitere Eskalation

Strana ist die beschwichtigende Reaktion des Westens aufgefallen:

„Die rasche Erklärung von Nato, USA und sogar Polen, dass die Rakete nicht aus Russland kam, zeigte, dass der Westen nicht bereit ist, die Beziehungen zu Russland eskalieren zu lassen. Dies ist auch bemerkenswert vor dem Hintergrund von Spekulationen in westlichen Medien, Washington und westeuropäische Länder wollten die Ukraine drängen, ihre Haltung in den Verhandlungen mit Russland zu verändern. ... Das zeigt, dass die Nato nicht in eine direkte Konfrontation mit Moskau hineingezogen werden will. Vor allem die Position Polens, ansonsten immer unerbittlicher Gegner von Putin, ist hier bezeichnend.“

Naftemporiki (GR) /

Kyjiw in Panik

Naftemporiki kritisiert das Verhalten von Wolodymyr Selenskyj:

„'Es war nicht unsere Rakete', behauptete der ukrainische Präsident 24 Stunden später erneut. Will Selenskyj wirklich einen Dritten Weltkrieg zwischen der Nato und Russland? ... Oder sieht er, dass jetzt versucht wird, eine Kompromisslösung zur Beendigung des Krieges zu finden, und will jede Friedensinitiative untergraben? ... Es ist klar, dass Selenskyj keine Verhandlungen will. Er scheint jedoch nicht verstehen zu wollen, dass ihn niemand um etwas bittet. Die westlichen Staats- und Regierungschefs werden entscheiden, was in der Ukraine zu tun ist. ... Selenskyj wird nicht konsultiert werden. Aus diesem Grund gerät er in Panik. Und Panik ist der schlechteste Ratgeber. Das kann sogar zu Provokationen führen.“

Dserkalo Tyschnja (UA) /

Eine Entschuldigung ist angebracht

Der Ukraine könnte ein Imageverlust drohen, meint Wolodymyr Krawtschenko, außenpolitischer Beobachter von Dserkalo Tyschnja:

„Wenn sich die Aussagen der US-amerikanischen und polnischen Staatschefs bestätigen, wird diese Geschichte für unser Land ziemlich unangenehme Folgen haben. Die russische Propaganda wird diese Tragödie schadenfroh aufgreifen. ... Aber das Wichtigste ist, dass wir die Beziehungen zu Polen nicht aufs Spiel setzen dürfen. ... Um mögliche unerwünschte Folgen zu vermeiden, sollten die ukrainischen Machthaber noch heute aktive Konsultationen mit Warschau aufnehmen. Und wenn sich bestätigt, dass die Rakete vom ukrainischen Luftabwehrsystem abgefeuert wurde, die Schuld zugeben und den Vorfall auf diplomatischer Ebene bereinigen.“

BBC (GB) /

Eskalation vermeiden

Nichts deutet darauf hin, dass Russland bewusst Nato-Gebiet angreift, beruhigt BBC:

„Entscheidend ist das beabsichtigte Ziel, ganz gleich wer die Rakete abgefeuert hat. Und bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass Russland absichtlich Ziele außerhalb der Grenzen der Ukraine ins Visier genommen hat. Der Kreml weiß, dass ein solcher Schritt möglicherweise Artikel 5 des Nato-Vertrags auslösen und theoretisch das gesamte Bündnis zur Verteidigung Polens mobilisieren würde. In so einer Situation will sich auch die Nato nicht wiederfinden - vor allem, weil sich nur einen Tag vor dem Zwischenfall die Geheimdienstchefs der USA und Russlands getroffen hatten, um zu diskutieren, wie eine unnötige Eskalation in diesem Krieg vermieden werden kann.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Halbherzige Antwort ist wahrscheinlich

Falls Russland verantwortlich sein sollte, sieht Tygodnik Powszechny drei verschiedene Szenarien:

„Die erste: so tun, als wäre nichts passiert. ... Die zweite, halbherzige Option: Wir lassen unseren Erklärungen begrenzte Taten folgen, indem wir zum Beispiel Teile der polnischen Luftabwehr näher an die Grenze verlegen. ... Wir nutzen die Situation, um den Druck auf die Verbündeten zu erhöhen, damit sie der Ukraine schneller und in größerem Umfang wirksame Luftabwehrsysteme liefern. ... Und schließlich Option drei: Wir nutzen die Situation, um die bisherige Politik gegenüber der russischen Aggression qualitativ zu verändern und wirklich entschlossen aufzutreten. ... Von diesen drei Möglichkeiten scheint die zweite heute die wahrscheinlichste zu sein.“

Onet.pl (PL) /

Raketenabwehr hat versagt

Polen ist verwundbarer als behauptet, sorgt sich Onet:

„Wir wissen immer noch nicht, ob eine russische oder eine ukrainische Rakete auf polnischem Gebiet einschlug. ... Wie dem auch sei, das Nato-Raketenabwehrsystem wurde jetzt getestet. ... Unser größtes Problem ist im Moment, dass das System nicht funktioniert hat und dass die Russen das wissen. Im März erklärte US-Präsident Joe Biden in Warschau, dass die Atlantische Allianz jeden Zentimeter des Nato-Gebiets schützen werde. Heute hat sich gezeigt, dass dieser Schutz vorerst auf der ganzen Linie versagt hat.“

Avvenire (IT) /

Es ist Zeit, dass Frieden einkehrt

Einmal mehr muss man jetzt auf Verhandlungen drängen, mahnt Avvenire:

„Wenn wir es wirklich mit einem bewussten russischen Angriff, einer gezielten Provokation zu tun hätten, würden wir uns in den Albtraum stürzen, den erst gestern die Signale des amerikanisch-chinesischen Gipfels auf Bali abzuwenden schienen. Die beiden anderen Hypothesen - Irrtum oder Zufall - könnten, wenn die politischen Akteure den dramatischen Umständen gewachsen sind, hingegen sogar das Bestreben verstärken, einen Verhandlungsweg aus einem Krieg zu eröffnen, der uns an den Rand des Armageddons bringt. ... Seit neun Monaten verharren wir nun an diesem wahnsinnigen Abgrund, während Waffen geschickt und Tod und Verwüstung gesät werden. Es ist Zeit, dass Frieden einkehrt“

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La Stampa (IT) /

Weder Tagesgeschäft noch Notfall

Zum Wunsch Polens, eine Nato-Sitzung auf Grundlage von Artikel 4 und nicht Artikel 5 des Verteidigungsfalls einzuberufen, erklärt La Stampa:

„Polen hat um eine Sitzung des Atlantikrates gebeten, allerdings im Rahmen von Artikel 4, der Konsultationen in Situationen möglicher Sicherheitsbedrohungen vorsieht. Es handelt sich nicht um ein Tagesgeschäft, aber auch nicht um einen Notfall. … Dies ist ein Zeichen dafür, dass Warschau zwar Moskau die Schuld an dem Vorfall gibt, sich aber nicht militärisch angegriffen fühlt. Die kollektive Verteidigung der Nato [bei Artikel 5] wird nicht automatisch ausgelöst. Sie muss von allen Verbündeten beantragt und einstimmig genehmigt werden. Dies ist heute nicht der Fall. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Moskau mit dem Feuer spielt.“